Dienstag, April 29

Indiens Regierung hatte 2019 Kaschmir die Autonomie genommen und die Kontrolle über die Region verschärft. Die Rückkehr des Terrors weckt nun Zweifel an Modis Darstellung, dass er damit die Normalität wiederhergestellt habe.

Vor dem blutigen Anschlag auf Touristen in Kaschmir hatte sich Indiens Premierminister Narendra Modi gerühmt, mit seiner Politik in der Region wieder für Stabilität gesorgt zu haben. Als Beweis führte er die seit Jahren steigenden Touristenzahlen in dem Himalajatal an. Das Massaker auf einer idyllischen Bergwiese hat nun allerdings zu einem Exodus der Feriengäste geführt und Modis Narrativ von der Rückkehr der Normalität infrage gestellt. Mehr denn je stellt sich die Frage, wie Kaschmir dauerhaft befriedet werden kann.

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Bei dem Anschlag am vergangenen Dienstag hatten vier Terroristen an einem malerischen Ausflugsort 26 Menschen erschossen. Auch knapp eine Woche später sind die Täter weiter auf der Flucht. Indische Medien berichteten, die Sicherheitskräfte hätten sie seit dem Anschlag vier Mal gesichtet. Es habe sogar im Süden Kaschmirs ein kurzes Feuergefecht gegeben, doch habe die Gruppe in der schwer zugänglichen und dicht bewaldeten Bergregion entkommen können.

Damit wächst der Druck auf Modi, auch militärisch auf den Anschlag zu reagieren. Der Premierminister hatte bereits kurz danach dem Erzfeind Pakistan die Schuld gegeben und gedroht, Indien werde die Täter «bis ans Ende der Erde verfolgen». In einer ersten Reaktion beschloss Delhi nur eine Reihe politischer Sanktionen. Angesichts der aufgeheizten Stimmung in Indien erscheint es aber weiterhin möglich, dass sich Modi für einen Militärschlag gegen Pakistan entscheidet.

Viele Kaschmiri fühlen sich ihrer Rechte beraubt

Unabhängig vom weiteren Vorgehen stellt der Anschlag den Erfolg von Modis Politik in Kaschmir infrage. Der Hindu-Nationalist hatte 2019 in einem umstrittenen Schritt den Verfassungsartikel 370 gestrichen, der Kaschmir seit der Unabhängigkeit 1947 einen speziellen Autonomiestatus garantierte. Die mehrheitlich muslimische Region wurde damit von einem eigenständigen Teilstaat zu einem Unionsterritorium heruntergestuft und der direkten Kontrolle der Zentralregierung in Delhi unterstellt.

Im Oktober fanden zwar erstmals nach sechs Jahren wieder Wahlen in Kaschmir statt, doch sind die Befugnisse der Regionalregierung weiterhin begrenzt. So liegt die Verantwortung für Sicherheitsfragen noch immer beim Gouverneur, der von Modi eingesetzt wird. Die Regionalregierung von Omar Abdullah in Srinagar gilt entsprechend als schwach, und viele Kaschmiri fühlen sich von Delhi gedemütigt und ihrer Mitbestimmungsrechte beraubt.

Die Änderung der Gesetze zum Kauf von Land hat Befürchtungen geweckt, dass Modis Regierung verstärkt Hindus von ausserhalb Kaschmirs ansiedeln und die demografische Zusammensetzung des Tals verändern wolle. Die Terrorgruppe The Resistance Front, die sich vergangene Woche zu dem Anschlag auf die Touristen bekannte, begründete die Tat denn auch damit, dass seit 2019 Hunderttausende Auswärtige in Kaschmir angesiedelt worden seien.

Nächtliche Explosionen sorgen für Unmut bei Kaschmiri

In der Bevölkerung ist zwar der Rückhalt für die Separatistengruppen zurückgegangen. Viele Kaschmiri empfinden die massive Präsenz der Armee aber weiterhin als bedrückend. Seit Beginn des Aufstands 1989 hat deren oft rücksichtsloses Vorgehen viele Einheimische in die Arme der Separatisten getrieben. Auch nach dem Anschlag zeigten die Sicherheitskräfte, dass sie sich nicht an Recht und Gesetz gebunden fühlen. So sprengten sie mehrere Häuser von Verdächtigen in die Luft, die Verbindungen zu Terrorgruppen gehabt haben sollen.

Neben den Häusern von Männern, die direkt an dem Anschlag beteiligt gewesen sein sollen, traf es auch Familien, deren Söhne sich vor Jahren oder gar Jahrzehnten den Separatisten angeschlossen hatten. Durch die insgesamt neun Explosionen wurden auch die Häuser unbeteiligter Nachbarn beschädigt. Zunächst war unklar, wer hinter den nächtlichen Sprengungen steckte. Doch am Wochenende stellte sich heraus, dass es niemand anderes als die Sicherheitskräfte sind.

In Kaschmir, wo der Anschlag auf die Touristen Entsetzen und Empörung ausgelöst hatte, führte das Vorgehen zu Unmut. Kaschmirs Chefminister Omar Abdullah mahnte, durch solche deplatzierten Aktionen drohe die Armee die Kaschmiri zu entfremden und ihre Unterstützung im Kampf gegen den Terror zu verspielen. «Bestraft die Verantwortlichen, zeigt keine Gnade, aber lasst nicht unschuldige Leute zum Kollateralschaden werden», sagte Abdullah.

Auch andere Politiker warnten vor der kollektiven Bestrafung der Bevölkerung. Es entstehe der Eindruck, dass «die ganze Familie für die Taten eines einzelnen Mitglieds bestraft werden solle», sagte ein lokaler Oppositionspolitiker. Die ehemalige Chefministerin Mehbooba Mufti kritisierte, Tausende würden festgenommen und die Häuser gewöhnlicher Leute zerstört. Die indische Regierung müsse genau zwischen Terroristen und Zivilisten unterscheiden, mahnte sie.

Der Terror hat seinen Ursprung in Kaschmir

In Indien ist die Zerstörung der Häuser von Verdächtigen weit verbreitet. Das Oberste Gericht hat im November diese Form der «Bulldozer-Justiz» scharf gerügt. In ihrem Urteil legten die Richter strenge Regeln für den Abriss von Häusern fest und machten klar, dass eine Bestrafung von Verdächtigen und ihrer Familien ohne vorheriges Urteil ein klarer Verstoss gegen die Verfassung sei. Die Behörden beeindruckte das Urteil allerdings wenig – sie halten weiter an der Praxis fest.

Mit der Sprengung der Häuser in Kaschmir stellen die Sicherheitskräfte unwillkürlich das Narrativ der Regierung infrage, wonach der Anschlag von Pakistan verantwortet wurde. Denn wenn die Täter aus Kaschmir stammen, ist der Terror nicht importiert, sondern hat seinen Ursprung im Tal selbst. Mit der offensichtlich illegalen Zerstörung der Häuser führten die Sicherheitskräfte zugleich vor Augen, warum sich so viele Kaschmiri über die Präsenz der Armee beklagen.

Kurzfristig ist die Priorität der Regierung, die Täter zur Strecke zu bringen und Vergeltung für den Anschlag zu üben. Wenn sie Kaschmir aber langfristig befrieden will, wird sie auch die Gründe der Gewalt angehen müssen. Ausschliesslich Pakistan für die Gewalt verantwortlich zu machen, möge politisch opportun sein, schreibt dazu die Denkfabrik International Crisis Group. Um der Region dauerhaften Frieden zu bringen, sollte sich die Regierung aber auch der Sorgen, der Wut und des Gefühls der Entfremdung der Bevölkerung annehmen.

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