Ein Gespräch über die Krise an den Hochschulen – und die Frage, ob jüdisches Leben in der Schweiz noch eine Zukunft hat.
Besonders auffällig zeigt sich der Antisemitismus gegenwärtig ausgerechnet an Universitäten – also dort, wo die künftige Elite ausgebildet wird, Fakten zählen und nicht Ideologie vorherrschen sollte. Am ausgeprägtesten in den USA: Der Antisemitismusbericht der Universität Harvard zeigt grassierenden Israel-Hass an der Spitzenhochschule.
In der Schweiz ist es nicht mehr viel besser. «Ich mache mir grosse Sorgen», sagt Manuel Battegay, als er in seinem Büro an der Universität Basel empfängt. Seit dem 7. Oktober und dem Hamas-Pogrom sei nichts mehr so wie in den Jahrzehnten zuvor, als Battegay, 65, an der Hochschule gelehrt und als Chefarzt am Universitätsspital gearbeitet hat.
Nicht einmal während der Corona-Pandemie, als der Infektiologe als Mitglied der Task-Force oft antisemitisch beleidigt und sogar bedroht wurde, auch wegen seiner jüdischen Herkunft. Heute berät er junge Professorinnen und Professoren in Führungsfragen.
Gerade bei diesem Thema tun sich viele Dozenten und Studenten nicht nur schwer, sondern sie vergessen sich regelrecht. Battegay verortet deshalb eine «Krise in der Akademie», da der Antisemitismus an den Universitäten das Denken «regelrecht vernebelt».
Herr Battegay, was ist los an Schweizer Hochschulen?
Wir erleben weltweit einen antisemitischen Tsunami, der linksextrem und islamistisch geprägt ist. Der geht leider auch an den Universitäten nicht ganz vorbei. Man schaut uns, die Juden, nicht mehr als Menschen an. Es wird blind einer Ideologie nachgelebt. Einer Ideologie ohne Wert. Ohne Fakten. Dieses evidenzlose Vorgehen ist gesamtgesellschaftlich ein Problem, aber Juden sind immer als Erste betroffen.
Warum?
Antisemitismus hat es immer gegeben. Er basiert auf der Wahrnehmung: Juden sind anders. Das ist falsch. Jeder Mensch ist anders. Oft heisst es ja, dass jeder Mensch ersetzbar sei. Im Judentum heisst es: Kein Mensch ist ersetzbar. Das Individuum steht im Zentrum. Das Individuelle wird uns aber abgesprochen. Ein Teil der Gesellschaft ist dabei, die Fähigkeit zu verlieren, zuzuhören, evidenzbasiert zu handeln. Die eigene Meinung wird nur noch wutentbrannt vertreten.
Wie kann das an einer Universität sein?
Die «Intelligenz» trägt das Risiko in sich, die Dinge verzerrt wahrzunehmen. Vor lauter Analysen sieht man die grosse Überschrift nicht mehr. Man verirrt sich im analytischen Gebilde. Das sehen wir bei den heutigen Ideologien. Bei der Wokeness, beim Postkolonialismus. Es wird an den Universitäten behauptet, dass Israel ein Apartheidstaat sei. Dabei sind 21 Prozent der Bürger arabische Israeli. Diese Menschen sitzen als Politiker in Parlamenten, sie haben tragende Rolle in den Spitälern. Dass das ignoriert wird, ist mehr als bedenklich.
Wer ist dafür verantwortlich?
Ich nehme da die Professorenschaften in die Pflicht, die diese Ideologien mittragen. Das ist ein kleiner Teil, aber ein nicht zu unterschätzender. Es kann nicht sein, dass ein Professor wie in Basel eine Arbeit fördert, die Israel vorwirft, mit Wildschweinen die Palästinenser anzugreifen. Das ist nicht mehr wissenschaftliche Offenheit, das sind Fake News. Oder dass sich Professoren mit Studenten verbrüdern, die die Universitäten besetzen und «From the river to the sea» brüllen.
Es heisst dann gerne, das sei legitimer Protest gegen einen Krieg.
Ja. Und Kritik an einem Krieg muss möglich sein, auch an Israel. Aber warum muss diese antisemitisch konnotiert sein? «From the river to the sea» ist ein Aufruf zur Auslöschung des Landes Israel. Dieser Spruch hebelt eine dreitausendjährige Geschichte aus. Es ist sogar durch Genforschung bewiesen: Juden stammen aus dem jetzigen Gebiet Israel – und es hat in der Region, die heute Israel ist, immer Juden gegeben. Israel ist kein Retorten-Land. Israeli sind wie die Inuit in Grönland – Indigene. Das muss man spätestens seit einer vielbeachteten Studie aus dem Jahr 2015 wissen, die im Fachmagazin «Nature» veröffentlicht worden ist. Es ist erschreckend, dass ein kleiner Teil der Professorenschaft den hasserfüllten Weg unbeirrt geht – und die Studenten sogar noch ermuntert, ihn mitzugehen.
Ein Professor kann sich doch nicht einfach gegen die Wissenschaft stellen.
Leider geht das in stark ideologisierten Fächern sehr gut: Überall, wo es um Postkolonialismus geht, ist die Gefahr da. Das zeigen ja diverse Beispiele, die in den letzten Jahren an die Öffentlichkeit gekommen sind. Eine klassische Blase. Das sorgt für Verzerrungen.
Ist es darum möglich, dass es Gruppierungen wie Queers for Palestine gibt? Queere Menschen können in Tel Aviv leben, wie sie wollen, im Gazastreifen müssten sie um ihr Leben fürchten und würden im schlimmsten Fall um dieses gebracht werden.
Das ist verrückt. Ich kann es leider nicht anders sagen. Anders als in den USA muss man jedoch sagen: Die Schweizer Universitätsleitungen erkennen diese Probleme und haben gut reagiert.
Aber ein Rektorat ist machtlos, es kann einen Professor kaum entlassen . . .
Das stimmt. Darum sage ich ja: Die Professorenschaft muss Verantwortung übernehmen. Ein Kollegium muss als Korrektiv dienen. Wenn ein Professor allerdings nach Feedbacks nicht mehr zwischen Kritik an Israel und Antisemitismus, also menschenverachtendem Gedankengut, unterscheiden kann: Dann ist das inakzeptabel. Und ich frage mich dann schon, ob man nicht handeln kann.
In Bern ist ein Dozent, der die Hamas verherrlicht, entlassen worden. Seine Frau, eine Professorin, allerdings nicht. Die Aufarbeitung bei solchen Fällen scheint oft missglückt. Bei den Studenten wirkt es ähnlich – mit Konsequenzen müssen sie selten rechnen.
Wie kann es sein, dass Kommilitonen, die mit dem Todeskult der Hamas sympathisieren, nicht mit ihrem Handeln konfrontiert werden? Eine Universität ist ein Ort der Debatte. In Basel zeigt sich das aktuell: Ringvorlesungen mit allen Meinungen werden organisiert. Dass das nicht öfter passiert, stimmt mich traurig. Und es macht auch Angst.
Was fürchten Sie?
Ich habe immer gesagt: Die Schweiz ist resilienter gegen Antisemitismus. Heute sage ich: Ich weiss nicht, ob das noch stimmt. Es gibt immer mehr Bedrohungen. Man kann etwa in gewissen Stadtteilen nicht mehr offen jüdisch sein, weil es bereits zu tätlichen Angriffen kam. Und der Aufwand für die Sicherheit steigt immer mehr. Als ich in Basel schon vor sechs Jahren als damaliger Präsident der Israelitischen Gemeinde mit der Polizei ein Sicherheitskonzept aufstellen musste, war die Lage schon unangenehm. Nun ist es bedrohlicher. Spätestens seit dem 7. Oktober. Die Universitäten sind da ein Indikator.
Warum?
Wenn die Intelligenz auf den Antisemitismus aufspringt und pseudomässig rechtfertigt, dass es okay sei, gegen Juden loszugehen: Dann ist das immer das Zeichen, dass der Wind in der Gesellschaft dreht. Das war 1933 nicht anders. Ein Beispiel.
Bitte.
Als die Nazis die Macht übernommen haben, hat der berühmte Chirurg Rudolf Nissen bemerkt, wie virulent der Antisemitismus in der Charité in Berlin bereits war. Er war der Lieblingsschüler des legendären Ferdinand Sauerbruch. Dieser sagte zu Nissen, dass er bleiben solle, weil er ihn beschützen könne. Doch Nissen ging. Das rettete ihm das Leben. Er wusste, wenn es zu spät ist, kann ihn niemand mehr beschützen. Die Universitäten haben jetzt eine tragende Verantwortung in der Gesellschaft, zu verhindern, dass so etwas wieder passieren kann. Das Grundrauschen ist jedoch immer noch da.
Kann es wieder passieren?
Die jüdische Gesellschaft hat gelernt, ja lernen müssen, nie etwas auszuschliessen. Darum kann diese Frage nicht verneint werden. Mir macht der Blick auf die akademischen Eliten wirklich grosse Sorgen. Es geht darum, dass Fakten wieder zählen. Israel hat ja nicht überall recht.
Aber?
Leider höre ich wenig von Studenten, die sich gegen den Krieg einsetzen, die Netanyahus Politik kritisieren – aber gleichzeitig auch die Freilassung von Geiseln fordern und die Hamas anprangern. Es ist doch nicht normal, dass viele arabische Länder der Hamas, einer Terrororganisation, weniger Sympathie entgegenbringen als ein Teil unserer Studenten. Und das passiert nicht nur wegen des Drucks der USA, sondern das sagen auch muslimische Geistliche, die den Koran zitieren und den Juden eine Daseinsberechtigung einräumen. Das hat Abdel-Hakim Ourghi
in der NZZ einmal treffend beschrieben: «Israel gehört den Juden – sagt der Koran.»
Wirklich gross ist der Rückhalt in arabischen Ländern aber nicht. Es leben kaum mehr Juden dort, es kam in den letzten Jahrzehnten zu einem Exodus von Hunderttausenden.
Ja, das stimmt, viele Länder sind praktisch judenrein. Man streitet aktuell darüber, ob es im Irak vier oder doch noch fünf Juden gibt. Bis in die 1940er Jahre waren es 150 000. Auch meine Familie mütterlicherseits lebte bis zu dieser Zeit in Bagdad.
Man erinnert sich dann an die Worte des bekannten Schriftstellers Leon de Winter, der in der «Sonntags-Zeitung» sagte: «Ich glaube, 2050 wird es nicht mehr viele Menschen in Europa übrig haben, die sich wie ich öffentlich dazu bekennen, Juden zu sein. Der Nazi-Traum wird wahr werden: Europa wird judenrein.» Denken Sie das auch?
Wie gesagt: Ich weiss es nicht. In der Schweiz würde ich Nein sagen. Immer noch. Es ist eine laute Minderheit, aber sie hat eine gefährliche Wirkung. Gerade weil diese akademisch geprägt ist. Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft aufsteht. Das passiert auch. Und jene, die Kritik äussern, beziehen diese auf die politischen Player, nicht auf die Juden in der Schweiz. Und die grosse Mehrheit will Israel auch nicht das Existenzrecht absprechen. Das ist der Weg – und nicht die dogmatische Bewegung an den Hochschulen, die andere Meinungen ausschalten wollen und die Juden besonders im Blickfeld haben.
Können Sie persönlich, der immer noch für die Universität arbeitet, jahrzehntelang Professor und Chefarzt war, da irgendwie gegensteuern?
Man darf nicht in eine Opferrolle verfallen. Das würde auch nicht zum Judentum passen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als das halbe jüdische Volk industriell vernichtet worden war, war es ganz wichtig, dass wir wieder prosperieren. Nicht naiv, nicht blind sein, immer parat, die Koffer zu packen. Aber dort, wo man ist, soll und muss man für die Gesellschaft einen Beitrag leisten.
Was leisten Sie für einen Beitrag?
Ich erkläre das Judentum. Dass es positiv ist. Der Talmud setzt sich für das Individuum ein, für jedes einzelne – und die Gesellschaft. Es gibt da ein wunderbares Beispiel. Vier Rabbiner streiten über die Funktionalität eines Ofens. Der weiseste von ihnen, Rabbi Eliezer, beansprucht dabei die Wahrheit – und bezieht sich auf das göttliche Gesetz.
Und die anderen drei?
Sind nicht überzeugt. Also bittet Eliezer Gott um Unterstützung. Und erhält sie. Aber die anderen bleiben bei ihrer Haltung – weil sie in der Mehrheit sind. Trotz Gott. Die Geschichte kann auf vielfache Weise gedeutet werden: Niemand hat die Wahrheit gepachtet, es ist eine Suche, ein ständiges Ringen um Wahrheit und den Weg dazu. Wahrheit wird nicht dekretiert, auch nicht von Gott. Und vor allem: Niemand kann sich auf Gott berufen, schon gar nicht, wenn ein Mensch seinen Standpunkt durchsetzen will. Mehrheitsverhältnisse und Demokratie sind essenziell. Das Ende der Geschichte zeigt eindrücklich, dass Gott mit den drei Rabbinern übereinstimmt – auch wenn es das Fehlerhafte beinhaltet.
Dieser Wunsch nach Verständigung klingt gut, nobel gar. Aber ist er nicht naiv?
Vielleicht. Aber wissen Sie, was an der Antisemitismus-Welle besonders perfide ist?
Sagen Sie es.
Wir Juden werden in die Defensive gedrängt. Wir antworten: Das ist nicht so. Wir sind nicht so. Es ist deswegen wichtig, in dieser Krise die positive Kraft und die Hoffnung nicht zu verlieren. Das auserwählte Volk heisst nicht, besonders zu sein, sondern: die Pflicht, zu wählen, zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen. Das Judentum ist gegen eine totalitäre Vision, es weiss und schätzt, dass es andere Völker und Ansichten gibt. Das sind die Hauptgründe, warum sich totalitär denkende Menschen und Systeme gegen Juden richten. Und so auch gegen Werte, die westlich sind.
Immer noch?
J. D. Vance hat ja mit seiner Rede in München grosse Empörung ausgelöst, weil er die Frage gestellt hat, ob der Westen diese Werte noch lebt. Ich halte diese Frage – bei aller Kritik an der Trump-Regierung – für sehr berechtigt. Denn ich könnte sie momentan nicht mit Ja beantworten.