Donnerstag, Oktober 10

Früher rettete er in den Bergen Leben. Heute schenkt er in Schulen, Gefängnissen oder Kliniken Zuversicht. Über den Bernhardiner und seine neue Aufgabe.

Er motiviert Verena Kramer zu einem Kraftakt: Für den Bernhardiner-Rüden Musk kämpft sich die Patientin im Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil aus dem Rollstuhl auf die Beine – und sucht einen sicheren Stand. Vor ihr liegt Musk auf einem erhöhten Spitalbett und füllt es beinahe aus. 63 Kilogramm Gemütlichkeit.

Musk, ein Sozialhund für tiergestützte Therapie, wartet geduldig auf eine Streicheleinheit. Und spornt die Patientin zu einer Höchstleistung an. Sie stützt die linke Hand auf ihrer Hüfte ab. Mit ihrer Rechten bürstet sie Musk. Der Zweieinhalbjährige geniesst es still – eine Vorderpfote weit von sich gestreckt.

«Öpper mues ja chrampfe», sagt sie, wirkt dabei aber vergnügt. Die 61-Jährige ist an multipler Sklerose erkrankt. Ende 2023 brach sie sich bei einem Unfall den zweiten Lendenwirbel – und erlitt im Spital einen schweren Infekt, der sie für einen Monat ins Bett zwang.

Nun durchläuft sie die Rehabilitation in Nottwil. Am Rollator kann sie erst seit kurzem gehen. Während sie Musk striegelt und ihn liebevoll anschaut, atmet sie schwer. Im Stehen den Hund zu kämmen, ist für sie ein hartes Training. Sie spult es fast beiläufig ab. Ihr Fokus liegt für einmal nicht auf dem verletzten Rücken. Er liegt auf Musk. Vor zwei Wochen musste sie sich noch am Bett abstützen. Die Physiotherapeutin steht an ihrer Seite und lobt sie: «Das sind grosse Fortschritte.»

Vom Lawinensuchgerät abgelöst

Musk hat viel dazu beigetragen. Die erste Therapiesitzung ist vorüber. Er legt sich auf dem Balkon in die Sonne. Alle zwei Wochen besucht er mit seinem Halter Benno Frischkopf das Paraplegiker-Zentrum. Frischkopf sagt: «Wie die Patienten auf den Hund reagieren, ist schön – und manchmal sehr eindrücklich.»

Frischkopf und Musk sind ein Team – eines von zwanzig, die für die Fondation Barry aus Martigny im Kanton Wallis Sozialeinsätze leisten. Die Stiftung verantwortet seit 2005 die Zucht der Bernhardiner. Davor lag sie jahrhundertelang in den Händen der Augustiner-Chorherren auf dem Grossen Sankt Bernhard.

Auf 2469 Metern über Meer formten die Geistlichen diese widerstandsfähige Rasse, die Menschen einen Weg durch den Schnee spurte oder Lawinenopfer aufspürte. Als Napoleon Bonaparte im Mai des Jahres 1800 mit 46 000 Mann über die Alpen zog, staunten manche von ihnen über diese Hunde, die Packsattel mit Proviant trugen oder erschöpfte Soldaten mit Schnaps aus umgehängten Beuteln versorgten. Weitum erzählten sie von dieser besonderen Rasse.

Zum Mythos machte sie aber ein ganz besonderes Exemplar: Barry I. Vierzig Menschenleben soll er von 1800 bis 1814 gerettet haben. Seine Hülle ist nun ausgestopft im Naturhistorischen Museum Bern zu sehen.

Bergidylle, Robustheit, Zuverlässigkeit. Solche Ingredienzien und solche Geschichten von Napoleon bis Barry haben über die Jahrhunderte den Bernhardiner zu einem nationalen Symbol für den Souvenirstand geformt, zu einer Verkörperung des Schweizer Arbeitsethos: pflichtbewusst und hilfsbereit.

Längst haben ihn der Helikopter und leichtere Suchhunde wie der Labrador und der Border Collie abgelöst. Und natürlich auch Lawinensuchgeräte. Immerhin: Ein verbreitetes Modell heisst Barryvox.

Nicht alle Bernhardiner sind geeignet

Die Fondation Barry erweitert die heldenhafte Geschichte nun um eine neue Facette. 2007 hat Claudia Müller die Ausbildung von Bernhardinern zu Sozialhunden entwickelt, seither leitet sie das Projekt «Barry hilft». Dank Spenden kann die Stiftung Hunde kostenlos zu fünfzig Einrichtungen schweizweit schicken: zu Altersheimen, zu Menschen mit Behinderungen, Schulen, Gefängnissen oder Kliniken.

Alle anderthalb Jahre schult die Stiftung Bernhardiner und ihre Halter in einem international anerkannten Lehrgang von rund achtzig Lektionen. Nicht jeder Bernhardiner sei aber per se für Sozialeinsätze geeignet, sagt Müller. Der Bernhardiner könne stur sein und wolle seine eigenen Entscheidungen treffen. Dies sei allerdings auch eine positive Seite seines Charakters. So könne er sich von seinen Haltern lösen und sich anderen Personen anvertrauen. «Er braucht aber schon als Welpe viel Sozialisierung unter Menschen», sagt Müller. Nur die Hälfte der Anwärter auf die Ausbildung zum Sozialhund sind letztlich geeignet.

Kampf gegen Schmerzen und Angst

Während die Bernhardiner früher Leben in den Bergen retteten, schenken sie heute in Einsätzen als Therapiebegleiter etwas Zuversicht. In Nottwil sind es die Physio- oder Ergotherapeuten, die den Rüden Musk in ihre Sitzungen integrieren. Die Tage im Zentrum sind streng getaktet. Es geht von Therapie zu Therapie, von Übung zu Übung. Die Patientinnen und Patienten kämpfen mit ihren Schmerzen – und mit der Angst, nie mehr gehen zu können.

Musk bricht diese Stimmung auf. Sein Halter Benno Frischkopf ist hauptberuflich Krankenpfleger. In einem Teilzeitpensum arbeitet er mit seinem Hund für die Fondation Barry. Frischkopf erzählt von einem Patienten, der drei Monate lang kein einziges Wort zu seinen Pflegerinnen sagte. «Nach nur wenigen Minuten mit Musk im Zimmer begann er ihn zu streicheln, sich zu öffnen und zu reden.»

Einmal besuchten Frischkopf und sein Bernhardiner einen Patienten, der gerade aus dem Koma erwacht war. «Seine erste aktive Handlung war, Musk ein Stück Wurst mit der Hand zu reichen», sagt Frischkopf. Solche Momente gemeinsam mit seinem Hund zu erleben, sei eine riesige Befriedigung.

Spielerisch therapieren

Auch Musk bereiteten die Einsätze Spass, sagt Frischkopf. Aber sie laugen den Hund auch aus. Der kräftige «Barry» leistet normalerweise nur eine Schicht pro Tag und zwei pro Woche. Heute macht er eine Ausnahme und begleitet in Nottwil eine zweite Physiotherapie-Sitzung. Dafür gibt es einige Läckerli extra.

Inzwischen ist eine neue Patientin im Rollstuhl ins Behandlungszimmer gefahren. Benno Frischkopf versteckt Käse-Häppchen und Cervelat-Stücke in einer von drei kleinen Boxen und reicht ihr diese. Die Patientin neigt sich aus dem Sitzen vorsichtig nach vorne und legt ein Kistchen nach dem anderen vor sich auf den Boden. Musk schnüffelt, sucht, zieht an der Schnur der richtigen Box. Er öffnet die Klappe und schmatzt.

Was wie ein Spiel aussieht, ist eine typische Übung in der tiergestützten Therapie. Patientinnen und Patienten stabilisieren mit solchen Bewegungen ihren Rumpf. Im Zusammenspiel mit dem Hund schöpfen sie neues Vertrauen in ihren Körper.

Manche Patienten haben Respekt

Seit rund acht Jahren sind die Bernhardiner der Fondation Barry in Nottwil im Einsatz. Die Physiotherapeutin Charlotte Blessemaille arbeitet an diesem Vormittag mit Musk zusammen und sagt: «Wir sehen, dass ihre Unterstützung der Therapie gewinnbringend ist.»

Einige hätten vor dem imposanten Bernhardiner auch Furcht, gerade wenn sie im Rollstuhl fast auf Augenhöhe mit ihm sässen. Wer sich aber in seiner Nähe wohlfühle, profitiere von ihm. Vor allem bei zurückhaltenden Patienten öffne der Hund eine Tür, sagt die Pflegerin. Wer sich im Rollstuhl unsicher fühle, bewege sich fast reflexartig nach vorne, um den Hund zu streicheln. Oder um Läckerli-Boxen auf den Boden zu stellen. «Der Bernhardiner hilft, Angst und Schmerzen zu vergessen.»

Mit dem Schicksal versöhnt

Edith Gempeler ist erstaunt. Die 65-Jährige hat im vergangenen Dezember einen Herzinfarkt erlitten. Ihr Unterkörper wurde zu lange zu wenig durchblutet. Deshalb bewegt sie sich momentan im Rollstuhl. «Ich habe mir die Therapie in Begleitung eines Hundes nicht so vorgestellt.» Sie sei überrascht, dass sie dadurch lerne, das Gleichgewicht zu halten, sich vor-, rück- und seitwärts zu bewegen. «Ich habe Fortschritte gemacht und bin stabiler.»

Und vermutlich hat Musk nicht nur ihrem Körper geholfen. An diesem Morgen hat er viel gearbeitet und sich erneut auf dem Balkon ein Plätzchen an der Sonne gesucht. Sein Halter schaut zu ihm hinunter und sagt: «De Pfupf isch dusse.» Alle viere hat der «Barry» von sich gestreckt, die Schnauze liegt flach auf dem Boden.

Die Patientin Edith Gempeler sitzt im Rollstuhl und blickt aus dem Physiotherapie-Zimmer zu Musk hinaus. Wenn sie ihn anschaue, sei ihr alles etwas gleichgültiger, sie fühle sich entspannter. «Auch Musk ist es doch gleichgültig, was gerade geschieht – Hauptsache, er hat seine Ruhe.» Ihr Schicksalsschlag scheint weit weg zu sein.

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