Angesichts ungewisser Konjunkturaussichten hat der Ölpreis deutlich korrigiert. Entsprechend haben sich auch Aktien aus dem Energiesektor vergünstigt. Eröffnet sich eine Einstiegsgelegenheit oder soll man für Investments besser eine mögliche Rezession abwarten?
Die Stimmung im Rohstoffsektor ist gedämpft. Während Gold von Rekord zu Rekord eilt, tendieren die Preise von Energieträgern, Industriemetallen und Agrarrohstoffen seit Monaten nach unten. Auch die Notierung für Rohöl, dem wichtigsten und mit Abstand grössten Segment des Sektors, hat sich deutlich abgeschwächt.
Der Preis für ein Fass der amerikanischen Referenzsorte West Texas Intermediate (WTI) ist diese Woche mit 65.75 $ auf den tiefsten Stand seit Anfang Dezember 2001 gefallen. Gestern Donnerstag ist es zwar zu einer leichten Gegenbewegung gekommen. Dennoch resultiert seit April ein Minus von mehr als 20%. Die Notierung für das europäische Pendant Brent verzeichnet ähnliche Einbussen.
«Enttäuschende Wirtschaftsdaten aus China und eine Abschwächung der weltweiten Produktionstätigkeit in der Industrie haben die Erwartungen an die Ölnachfrage in den vergangenen Monaten gedämpft», meint Francisco Blanch, langjähriger Rohstoffanalyst bei Bank of America. Wie bei anderen Finanzhäusern hat das Rohstoff-Team der US-Grossbank den Ausblick zum Ölpreis in den vergangen Tagen nach unten revidiert.
Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass Aktien von Energiekonzernen unter Druck stehen. Im S&P 500 ist der Sektorindex mit Schwergewichten wie Exxon Mobil, Chevron, ConocoPhillips oder Occidental Petroleum unter den gleitenden Durchschnittskurs der letzten zweihundert Handelstage gefallen und bewegt sich auf dem gleichen Stand wie im Frühjahr 2022.
Über die vergangenen zwölf Monate verzeichnen amerikanische Energiewerte einen Verlust von gut 3%, wogegen der US-Leitindex annähernd 25% expandiert ist. Kein anderer Sektor schneidet auch nur annähernd so schlecht ab.
Erheblich an Terrain verloren hat ebenso der SPDR S&P Oil & Gas Exploration & Production ETF (Börsenkürzel: XOP) mit einer breiten Auswahl an Explorations-, Förder- und Raffineriegesellschaften. Besonders stark gelitten haben in den vergangenen Tagen Titel von Servicegesellschaften wie Schlumberger und Halliburton.
Investoren, die sich für die Branche interessieren, stehen damit vor einem schwierigen Entscheid: Einerseits könnte die Korrektur eine attraktive Gelegenheit für Engagements eröffnen. Andererseits besteht aber das Risiko noch wesentlich grösserer Kurseinbussen, falls sich die Konjunkturaussichten weiter eintrüben und es möglicherweise sogar zu einer Rezession in den USA kommt.
Energieaktien in der Rezession
Hilfe zur Orientierung kann in solchen Situationen ein Blick in die Vergangenheit geben. Konkret geht es derzeit vor allem um die Frage, wie sich Energieaktien normalerweise im Umfeld einer Rezession verhalten.
Als erstes Fallbeispiel dient der US-Konjunkturabschwung im Zug der US-Sparkassenkrise Anfang der Neunzigerjahre. Die Rezession wird damals durch eine Straffung der Zinspolitik ausgelöst. Hinzu kommt ein Ölpreisschock mit dem Einmarsch irakischer Truppen in Kuwait.
Energieaktien erleben mit dem Ausbruch des ersten Golfkriegs zunächst einen Schub, sacken dann aber ab und setzen bereits vor dem Ende der Rezession zur Erholung an. Obschon die Kursentwicklung in den folgenden Jahren von markanten Schwankungen geprägt ist, haben sich Investments im Vorfeld des Abschwungs ausgezahlt.
Ein ähnliches Muster lässt sich bei der Rezession nach dem Platzen der Internetblase beobachten. Energieaktien schlagen sich in der Anfangsphase des Abschwungs zunächst wacker, brechen dann aber ein.
Ein erster Tiefpunkt wird auch in diesem Fall vor dem Ende der Rezession erreicht, worauf es im Hochsommer 2002 mit der allgemeinen Verunsicherung um den sich abzeichnenden Krieg im Irak und ersten Ölexporten aus Russland in die USA erneut zum Rückschlag kommt. Obwohl der Ölpreis schon ab Ende 2001 aufwärts tendiert, beleibt die Entwicklung des Sektors in den ersten zwei Jahren nach der Rezession unbefriedigend.
Besonders starke Nerven sind während der Grossen Rezession der Jahre 2008/09 gefragt. Der Abschwung setzt seinerzeit zwar bereits Ende 2007 ein, doch Aktien von Energiekonzernen verspüren zunächst weiter Auftrieb. Der Preis für WTI-Öl markiert am 14. Juli 2008 das bis heute unerreichte Allzeithoch von über 142 $ pro Fass.
Als dann aber die Bankenkrise die Weltwirtschaft zum Stillstand bringt, folgt ein umso brutalerer Einbruch. Der Preis für die US-Referenzsorte fällt bis im Frühjahr 2009 um mehr als 75%. Vor allem dank der robusten Nachfrage aus China hellen sich die Perspektiven im Sektor indes bald auf. Wer unmittelbar vor der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit in Energieaktien investiert hat, steht zwei Jahre nach dem Abstand praktisch gleich da.
Das Trauma vom Herbst 2008 wiederholt sich beim Ausbruch der Covid-Pandemie im Februar 2020. Am 20. April handeln Kontrakte für kurzfristige Öllieferungen für einen Moment sogar erstmals in der Geschichte zu negativen Preisen. Angesichts der Popularität von ESG-Investments und präzedenzlosen Wertberichtigungen auf Förderanlagen wird Energiekonzernen das baldige Ende prophezeit.
Auch beim kurzen, aber scharfen Konjunktureinbruch vom Frühjahr 2020 verhalten sich Energieaktien nach dem typischen Muster. Der Boden wird auch dieses Mal bereits vor dem Ende des Abschwungs erreicht. Selbst Investoren, die unmittelbar vor der Krise investiert haben, bereuen es zwei Jahre später nicht. Im Nachgang der Pandemie feiert der Sektor ein eindrückliches Revival.
Was, wenn es anders kommt?
Das Fazit aus diesen vier Episoden ist eindeutig: Sollte es in den USA zu einer Rezession kommen, dürfte es im Energiesektor einmal mehr ziemlich ungemütlich werden. Happige Verluste sind während der intensivsten Phase des Abschwungs so gut wie sicher.
Der schlimmste Fehler ist aber nicht, im Vorfeld einer Rezession in Energieaktien zu investieren, sondern die Nerven zu verlieren und auf dem Tief zu verkaufen. In der Regel sind die Verluste nach relativ kurzer Zeit wettgemacht. Es ist sogar gut möglich, dass bereits ein oder zwei Jahre später ein Gewinn resultiert.
Noch wichtiger aber: Dass die amerikanische Wirtschaft in eine Rezession fällt, ist längst nicht sicher. Die Signale für eine Konjunkturabkühlung häufen sich zwar, und eine sanfte Landung ist ein enorm schwieriges Manöver, das der US-Notenbank nicht oft gelingt. Ausgeschlossen ist ein solches Szenario jedoch nicht. Das beste Beispiel dafür findet sich Mitte der Neunzigerjahre.
Um den Inflationsdruck zu entschärfen, zieht das Fed damals die Zügel relativ rasch an. Der US-Leitzins steigt von Anfang 1994 bis März 1995 von rund 3 auf 6%. Die Wirtschaft verliert an Dynamik, das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts verringert sich bis im vierten Quartal 1995 auf nur noch 2,2%. Doch dank einer Reihe moderater Zinssenkungen – wie sie manche Ökonomen auch in den nächsten Monaten erwarten – gewinnt die Konjunktur bald neuen Schwung.
Ein besseres Szenario gibt es für Energieaktien kaum. Der Sektor bewegt sich damals zunächst eine gewisse Zeit lang seitwärts (eine weitere Parallele zur heutigen Ausgangslage) und setzt dann im Gleichschritt mit einem steigenden Ölpreis zu einer kräftigen Rally an.
Die Frage des Timings
Wie also soll man in den kommenden Wochen und Monaten am besten vorgehen? Im Hinblick auf die steigende Wahrscheinlichkeit einer Rezession, erscheint es nicht ratsam, schon jetzt äusserts aggressiv auf Energieaktien zu setzen. Ebenso besteht aber auch das Risiko, dass man beträchtliche Gewinne verpasst, wenn man überhaupt kein Exposure zum Sektor hat.
«Jeder weiss, dass sich das Wirtschaftswachstum in den USA verlangsamt», meint der Marktstratege Larry McDonald. «Echte Value-Investoren steigen jetzt angesichts der jüngsten Korrektur auf dem gegenwärtigen Kursniveau ein», hält der fest.
Er spricht damit den entscheidenden Punkt an. Auf Basis der Konsensschätzungen für die nächsten zwölf Monate handeln US-Energiekonzerne zum rund 6-Fachen des Betriebsgewinns vor Abschreibungen und Amortisationen (Ebitda). Für Exxon beispielsweise beträgt das Vielfache 6,6, für Chevron 5,7. Die Bewertungen liegen damit leicht unter dem Durchschnitt der letzten zwanzig Jahre.
Im Worst-Case-Szenario einer Rezession werden Analysten ihre Schätzungen selbstredend nach unten revidieren. Selten war der Sektor aber zu einem derart grossen Abschlag im Vergleich zum Gesamtmarkt bewertet wie heute.
Ein guter Anhaltspunkt, dass die Bewertungen nach Ansicht von Brancheninsidern attraktiv sind, ist die laufende Konsolidierung. Mit der Fusion von Diamondback Energy und Endeavor Energy Resources, der Übernahme von Marathon Oil durch ConocoPhillips und der Akquisition von Southwestern Energy durch Chesapeake Energy sind allein in der ersten Jahreshälfte drei grössere Deals angekündigt worden.
«Wir erwarten weitere Konsolidierungsaktivitäten in der zweiten Hälfte des Jahres 2024», denken die M&A-Spezialisten des Buchprüfers PWC. Nach wie vor im Raum steht ausserdem die 53 Mrd. $ teuer Übernahme von Hess durch Chevron, gegen die Exxon eine Klage eingereicht hat.
Hinzu kommt, dass viele Konzerne heute in einer hervorragenden Verfassung sind. Im Gegensatz zu den Übertreibungen im letzten Jahrzehnt legt die Branche bei Investitionen ein hohes Mass an Disziplin an den Tag. Aktionäre kommen in den Genuss grosszügiger Dividendenrenditen von üblicherweise 3 bis 5% und profitieren überdies von Aktienrückkäufen.
Kommt es zu einem Abschwung, sind die meisten Energiekonzerne heute wesentlich besser gewappnet als auch schon. Das Verhältnis von Nettoschulden zum Ebitda beträgt für den Sektor momentan weniger als 1. Ende 2019, wenige Monate vor dem Ausbruch der Pandemie, belief es sich auf annähernd 2.
Auch wenn es bei einem Konjunkturabschwung vorübergehend ziemlich ungemütlich wird, sollten Energieaktien in einem langfristig ausgerichteten und gut diversifizierten Portfolio daher nicht fehlen. Das denkt sich offensichtlich auch Warren Buffett, zumal Chevron und Occidental Petroleum zu seinen Kernpositionen zählen.
Wer umsichtig vorgeht, stellt zudem sicher, dass genügend Liquidität zur Verfügung steht, um im Energiesektor richtig zuschlagen zu können, falls es an den Börsen im Zug einer Rezession kracht. Dies, wohlwissend, dass es in der Praxis ohnehin so gut wie nie gelingt, den perfekten Zeitpunkt für ein Investment zu erwischen.