Donnerstag, September 4

Der Film erzählt von zwei Schwestern, die mit einer alkoholkranken Mutter aufwachsen. Es ist traurig und mitreissend. Nur ein Mann stört etwas.

Dieser Spätsommer gehört Caroline Wahl. Sie ist dreissig Jahre alt, und vor wenigen Tagen ist ihr dritter Roman «Die Assistentin» erschienen. Am vierten arbeitet sie schon. Das ist Wahls Tempo.

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Caroline Wahl schreibt Bestseller in geradliniger und frecher Sprache. Sie hat Fans, die gierig auf neuen Lesestoff von ihr warten. Und auch die Feuilletons werden immer neugieriger. In den vergangenen Wochen war Wahls Gesicht in allen grossen deutschsprachigen Zeitungen zu sehen.

Im Trubel um das neue Buch geht die Verfilmung ihres Erstlings «22 Bahnen» fast vergessen. Dabei ist auch das ein Ereignis, zumindest für die Fans. Der Roman, auf dem der Film basiert, erschien vor zwei Jahren. Seither steht er auf den Bestsellerlisten. Er wurde hunderttausendfach verkauft. Funktioniert die Geschichte auch im Kino?

Alkohol im Jutebeutel

«22 Bahnen» handelt vom Leben zweier Schwestern in einer deutschen Kleinstadt. Tilda ist die ältere, eine begabte Mathematikstudentin, die im Supermarkt arbeitet und in ihrer Freizeit im Freibad Bahnen schwimmt. Ihre jüngere Schwester Ida bleibt am liebsten zu Hause und zeichnet. Sie ist schüchtern. Ins Freibad geht sie nur, wenn es regnet. Sowieso meidet sie Menschen, wo sie kann.

Tildas und Idas Mutter ist Alkoholikerin. Manchmal arbeitet sie in einer Bücherei, meistens aber trinkt sie. Sie ist kaum da für die beiden Töchter, und noch schlimmer: Immer wieder wird sie gewalttätig. Es ist also Tilda, die sich um die jüngere Schwester kümmert, sie zur Schule begleitet und für sie kocht.

Tilda wird von der Schweizerin Luna Wedler gespielt, die man aus dem Film «Landesverräter» oder der Netflix-Serie «Biohackers» kennt. Sie kann Tildas Gefühlslagen mit Gestik, Mimik, Sprache treffend zum Ausdruck bringen. Man sieht, wie es in ihr brodelt, wenn die Mutter den Töchtern schon wieder vorgaukelt, es sei Schluss mit dem Alkohol. Neben ihr ist die elfjährige Zoë Baier als Ida zu sehen. Baier spielt auch im Film «In die Sonne schauen» von Mascha Schilinski, den Deutschland bei den Oscars einreichte. Vielleicht ist es der Beginn einer grossen Schauspielkarriere.

Der Film lebt von kurzen, einprägsamen Szenen, von Gegenständen und Orten, die die Lebensrealität dieser Frauen erklären. Da ist zum Beispiel der Jutebeutel aus der Bücherei, der an der Küchentür hängt und fast jeden Abend mit leeren Flaschen überquillt. Es bedeutet, dass die Mutter wieder getrunken hat.

Dann die Radieschen. Die jüngere Schwester Ida schneidet sie für das Abendessen mit Mutter und Schwester zu Röschen. Um durch das gemeinsame Essen zumindest kurz den Eindruck zu erwecken, es handle sich um eine intakte Familie. Doch dauert es meist nur eine trügerisch ruhige Viertelstunde, bis die Mutter ein nächstes Mal ausrastet.

Und natürlich das Freibad. Bei Regen. Blau und leer und ein wenig traurig. Da beginnt der Film, und dahin kommt er zigmal zurück. Das Freibad ist der Rückzugsort der beiden Schwestern. Sie schwimmen und rennen dann gemeinsam durch den Regen heim. Die Kleinstadt kann so romantisch sein.

Doch sie ist auch beklemmend klein, vor allem für Tilda. An der Universität ermutigt Tildas Professor sie, sich um eine Stelle in Berlin zu bewerben. Sie könnte dort eine Doktorarbeit schreiben. Tilda will das unbedingt. Doch ihre Sorgen gelten nicht der Bewerbung, sie gelten Ida. Sie weiss nicht, ob sie sie mit der Mutter allein lassen kann.

Manchmal berührt die Geschichte. Zum Beispiel, als Tilda die Billignudeln in eine andere Verpackung schüttet. Ida soll nicht wissen, dass sie sich die teurere Pasta nicht leisten können. Ausserdem ist die Welt von Tilda und Ida voller Motive, die bei Millennials Nostalgie auslösen; sie erinnern sie an die eigene Kindheit und Jugend. Tilda trägt Bandshirts, Ida ein T-Shirt mit Diddl-Figur. Die Schwestern lesen «Die Tribute von Panem», diese amerikanische Science-Fiction-Reihe der Autorin Suzanne Collins, die in den 2010er Jahren so beliebt war. Auf dem Weg zur Schule singen sie «Durch den Monsun» von Tokio Hotel. Man will mitsingen.

Platte Liebesgeschichte

Dann aber platzt Viktor in die Geschichte, ein junger Mann, der ebenfalls im Freibad schwimmt. Tilda war früher mit seinem kleinen Bruder befreundet. Doch dieser starb bei einem Autounfall, der fast die ganze Familie auslöschte. Nur Viktor lebt noch. Er kehrt in die Kleinstadt zurück, um das Haus seiner Familie zu räumen.

Viktor und Tilda nähern sich an. Ist es, weil Tilda den Bruder von Viktor kannte? Oder verbindet die beiden die Tatsache, dass sie Schweres erlebt haben? Leider erfährt man es nicht. Stattdessen starren sich Viktor und Tilda bloss aus der Ferne an. Ihre ersten Begegnungen sind oberflächlich und klischiert. An einem Abend sind sie in der gleichen Bar. Als Tilda geht, rennt Viktor ihr hinterher. Was ihr eigentlich einfalle, angetrunken, in kurzem Kleid und allein nach Hause laufen zu wollen, ruft er. Eine Szene, die man aus so vielen Liebesfilmen kennt. Kitschig und ein wenig langweilig. Irgendwann, da küssen sie sich, bei Sonnenuntergang auf einem Hochhausdach. Er sagt: «Ich habe das nicht kommen sehen.» Es ist ein bisschen platt.

Der Film bleibt sehr nahe bei Caroline Wahls Roman, die Produzenten haben die Handlung nicht unnötig verbogen. Aber sie haben eben auch nichts gewagt. Bei Viktor und Tilda verpasst es der Film, es besser zu machen als das Buch: weniger erwartbare Szenen, dafür mehr Nuancen dieses Kennenlernens zu zeigen.

Der Roman «22 Bahnen» ist wie gemacht für eine Verfilmung. Caroline Wahl hat Protagonistinnen mit klaren Charaktereigenschaften geschaffen. Die schlaue Mathematikstudentin als Protagonistin. Die schüchterne kleine Schwester. Die alkoholkranke Mutter. Das trübe Leben in der Kleinstadt. Die Flucht in Form einer Promotionsstelle in Berlin. Der unerwartete Verehrer. All das passt auf die grosse Leinwand.

Doch etwas Entscheidendes fehlt dem Film dennoch. Die freche, kurz angebundene Sprache von Caroline Wahl, die den Kitsch, die Klischees und die Traurigkeit durchbricht. Nur manchmal kommt sie vor, in Form von Tildas Gedanken. Dann fallen Sätze wie: «Eigentlich ist eigentlich ein Scheisswort.» Man ist kurz ein bisschen erleichtert.

Im Kino.

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