Das Schaffhauser Obergericht wird voraussichtlich in den nächsten Tagen entscheiden, ob die Wahl des Schaffhauser Ständerates Simon Stocker gültig ist. Der Streit um den wahren Wohnsitz wirkt wie aus der Zeit gefallen.

Seit 214 Tagen sitzt ein Mann im Ständerat, von dem nicht feststeht, ob er zu Recht in sein Amt gewählt worden ist. Der Schaffhauser SP-Ständerat Simon Stocker habe zum Zeitpunkt seiner Wahl nur scheinbar in Schaffhausen gelebt und damit die Wählbarkeitsvoraussetzungen seines Kantons verletzt. In Wahrheit habe er bei seiner Familie in Zürich gelebt. Das behaupten politische Gegner von Stocker und verlangen vor Gericht, dass der Sitz stattdessen an den langjährigen, jedoch im November abgewählten Amtsinhaber Thomas Minder geht.

Seit Monaten ist das Verfahren im Gang, in den nächsten Tagen könnte das Schaffhauser Obergericht in dem Fall entscheiden. Es gibt viele gute Gründe dafür, nicht auf die unter merkwürdigen Umständen zustande gekommene Beschwerde einzutreten oder diese abzuweisen. Doch ob das Gericht dies tut, ist nicht sicher. Denn juristisch ist die Sache vielschichtig und kompliziert. Selbst Experten wagen keine Prognose darüber, wie das Verfahren am Ende ausgeht.

Auch Martullo-Blocher musste sich erklären

Der Fall hat sich deshalb längst von einer schrulligen Provinzposse zur Grundsatzdebatte mit nationaler Ausstrahlung entwickelt: Wie kann es sein, dass der Wohnsitz von Politikerinnen und Politikern in einem kleinräumigen und hoch mobilen Land mit schöner Regelmässigkeit zu Auseinandersetzungen führt?

Denn Stocker ist kein Einzelfall: So musste die Zürcher Ständerätin Angelina Moser mitten im Wahlkampf plötzlich erklären, wie sie ihr Privatleben organisiert. Zum Verhängnis wurde ihr, dass sie in einer Patchworkfamilie lebt: Ihr Partner ist der Berner Nationalrat Matthias Aebischer. Moser (GLP) und Aebischer (SP) haben Kinder aus früheren Beziehungen und deshalb keinen einheitlichen Familiensitz.

Zum Thema wurde der Wohnsitz ein paar Jahre zuvor auch bei der SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher, die mit ihrer Familie in Meilen lebt und in Graubünden ein Unternehmen führt. Die Diskussionen versandeten nur, weil der Wohnsitz im Nationalrat nicht zu den Wählbarkeitsvoraussetzungen gehört.

Aus einer Zeit, als alle dem Familienoberhaupt folgten

Stocker aber muss vor Gericht in buchhalterischer Akribie nachweisen, ob er in Zürich oder in Schaffhausen mehr Strom verbraucht hat und an welchen Tagen er mit welcher Begründung in welchem Kanton aufgewacht ist. Darum, ob Stocker die Interessen seines Kantons in Bern angemessen vertreten kann, geht es längst nicht mehr. Denn alle Schaffhauser wissen, dass Stocker seine Heimat kennt. Deshalb haben sie ihn ja gewählt.

Wohnsitzvorschriften für politische Ämter stammen aus einer Zeit, als Lebensmittelpunkt und Arbeitsort fast immer zusammenfielen. Sie funktionierten in einer Gesellschaft, in der sich die Ehefrau und die Familie bedingungslos dort niederliessen, wo es das Familienoberhaupt tat. Die Regeln waren sinnvoll, als Nachrichten aus der Heimat nicht überall live verfügbar waren. Doch dank Whatsapp, S-Bahn im Viertelstundentakt und neuen Familienmodellen sind solche Vorschriften überflüssig.

Wählerinnen und Wähler können selber entscheiden

Es ist deshalb kein Zufall, dass in diesem Verfahren nicht mehr über die Sache gestritten wird, sondern vor allem über Formalitäten und Verfahrensfragen. Sämtliche Fälle, von Stocker bis zu Martullo-Blocher (und weitere, die auf regionaler Ebene für Schlagzeilen sorgten), die zeigen vor allem eines: wie sehr eine Gesetzgebung aus der Zeit gefallen ist, die es letztlich von der Ausgestaltung des Privatlebens abhängig macht, ob sich jemand für ein politisches Amt aufstellen lassen darf.

Abgesehen von der Hoffnung auf ein Gericht, das Formalien nicht überbewertet, braucht es deshalb eine politische Initiative: Schafft die Wohnsitzpflicht für Politikerinnen und Politiker ab! Denn die Wählerinnen und Wähler können auch ohne starre Regeln entscheiden, wem sie ihr Vertrauen schenken.

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