Über kriminelle Familienclans, gutgläubige Opfer und einen Richter, dem der Kragen platzt.
Kristina kann in die Zukunft sehen. Die kleine, unscheinbare Frau mit dunklem stechendem Blick und dem kleinen Mal auf der Nase behauptet, sie könne mit Ritualen tödliche Flüche beseitigen.
Doch Kristina heisst nicht Kristina. Sie ist auch keine Schamanin. Sie ist eine Betrügerin.
Für die Ermittler ist inzwischen klar: Die 36-jährige Italienerin ist Teil eines skrupellosen, kriminellen Netzwerks, das seine Opfer mit perfiden Mitteln unter Druck setzt und ihnen ihr Vermögen abluchst. «Marabout» nennen die Strafverfolgungsbehörden die Betrugsmasche.
Die Spur führt zu kriminellen Familienclans, die vor allem in der österreichischen Hauptstadt Wien und ihrer Agglomeration sowie deutschen Grossstädten wie Köln beheimatet sind. Von dort werden die Heilerinnen und Schamaninnen ausgeschickt, auf ihren Touren kommen sie bei Verwandten unter. In den letzten Jahren stellen die Schweizer Sicherheitsbehörden immer mehr solche Fälle fest.
Ein Spiel mit der Angst
Was die Zürcher Ermittler im Fall Kristina zusammentragen, offenbart so etwas wie ein Drehbuch, nach dem die Betrügerinnen vorgehen.
Im Oktober 2024 spricht die selbsternannte Schamanin eine Frau auf dem Bundesplatz in Zug an. Die 36-jährige Italienerin erzählt dem Opfer, sie könne die Aura der Frau sehen. Und was sie sieht und spürt, ist unheilvoll: Die Frau sei mit schwarzer Magie verflucht.
Das Opfer befindet sich tatsächlich in einer schwierigen Lebensphase: Ihr Ehemann ist an Krebs erkrankt, wie sie Kristina bereitwillig erzählt.
Das nutzt die Heilerin schamlos aus. Irgendwann im Gespräch erwähnt sie den Schmuck, den das Opfer von seiner Mutter geerbt hat. Auch dieser sei vom Fluch betroffen, die Krebserkrankung des Ehemanns eine Folge davon. Sie spüre, dass dieser bald sterben werde.
Kristina behauptet, sie verfüge über ein Gegenmittel: Sie könne den Fluch mittels einer spirituellen Reinigung brechen. Damit könne verhindert werden, dass sich der Gesundheitszustand des Ehemanns weiter verschlechtere und sich der Fluch auch auf die Töchter der Frau ausdehne. Das Opfer stimmt schliesslich einer Reinigungszeremonie zu.
Die Frauen tauschen die Telefonnummern aus.
Als sich Kristina am nächsten Tag bei ihrem Opfer meldet, hat sie schlechte Nachrichten. Der Fluch habe nicht beseitigt werden können. Sie benötige den Schmuck nun vor Ort. Kristina lotst ihr Opfer nach Zürich in den Irchelpark. Die Frau folgt den Anweisungen: Sie übergibt der Italienerin ein Schmuckset, zwei Goldarmbänder, eine Halskette und zwei Uhren.
Doch es gibt wieder Probleme, wie Kristina dem Opfer per Whatsapp und am Telefon mitteilt. Kristina will den Fluch deshalb gemeinsam mit Priestern in einem Kloster in Zürich beseitigen. Dafür braucht sie noch mehr Geld.
In den folgenden Tagen bringt das Opfer Bargeld und Schmuck zum Irchelpark für die Reinigung. Einmal sind es 10 000 Franken in bar, ein anderes Mal Schmuck und zwei Engelsfiguren im Wert von 30 000 Franken, schliesslich nochmals Bargeld in der Höhe von 25 000 Franken. Alles zusammen hat einen Wert von 109 000 Franken, wie die Staatsanwaltschaft später in ihrer Anklage festhalten wird.
Kristina verspricht ihr, die Wertgegenstände nach der Reinigung zurückzugeben. Doch dann bricht der Kontakt plötzlich ab. Die Heilerin reagiert nicht mehr auf Nachrichten und Anrufe des verzweifelten Opfers.
Ein zubetonierter Pool und ein Tresor voller Bargeld
Fälle von selbsternannten Heilerinnen und Schamaninnen gab es in den letzten Jahren immer wieder. Im Herbst 2024 war eine Österreicherin vom Zürcher Obergericht verurteilt worden, die ihre Opfer mit Heilungsversprechen hereingelegt hatte.
Wie lukrativ die Betrugsmasche für die kriminellen Clans ist, zeigt ein Fall, der die österreichischen Ermittler gerade beschäftigt. Nach monatelangen Untersuchungen führten diese einen Schlag gegen das Netzwerk einer 44-jährigen, selbsternannten Schamanin durch. Die Frau, die sich selbst Amela nannte, soll ihre Opfer nicht nur in Österreich, sondern auch in der Schweiz und in Deutschland um einen zweistelligen Millionenbetrag geprellt haben.
Die österreichischen Ermittler sprechen von einem der grössten Betrugsfälle des Landes.
Bei einer Hausdurchsuchung in einer Villa stiessen die Ermittler in einem Tresor auf enorme Geldsummen und Wertsachen: 4,1 Millionen Euro und 2,1 Millionen Franken in abgepackten Bündeln, diamantbesetzte Halsketten und Ringe, Goldbarren, 20 Luxusuhren – darunter Modelle von Rolex, Cartier, Patek Philippe.
Auch Münzsammlungen, eine über hundert Jahre alte Taschenuhr und zwei Verdienstorden der Republik Österreich gehören zu den gestohlenen Gegenständen. In einem zubetonierten Pool fanden die Ermittler zudem ein Versteck mit Gold und Silber.
Die sichergestellten Millionenbeträge in Franken deuten darauf hin, dass die mutmassliche Betrügerin auch in der Schweiz aktiv war. Bisher gingen jedoch keine Anzeigen von Opfern aus der Schweiz ein, wie die Landespolizeidirektion Niederösterreich auf Anfrage der NZZ mitteilt.
Mehrere mutmassliche Komplizinnen und Komplizen sind in Untersuchungshaft. Doch die Hauptfigur, die Schamanin Amela, befindet sich auf der Flucht. Wo sie sich aufhält: unklar. Inzwischen wird europaweit nach der Österreicherin gefahndet.
Der Trick, den die flüchtige Kriminelle angewendet hat, um ihren Opfern Geld abzuluchsen: Es ist exakt der gleiche, den auch Kristina in der Schweiz nutzt.
Laut den Ermittlungsbehörden gibt es zwei Vorgehensweisen: Bei der einen Masche zielen die Betrügerinnen auf Personen ab, die empfänglich sind für Esoterik. Die angeblichen Heilerinnen gaukeln ihren Opfern wie im Fall in Zug vor, sie könnten Flüche mittels Reinigungsritualen brechen. Für die Behandlungen werden häufig Hilfsmittel wie Tarotkarten, Lourdes-Wurzeln oder Gandhi-Kraut benutzt.
Mit der zweiten Masche zielen die Täter auf Seniorinnen und Senioren ab, denen sie Hilfe anbieten. Gleichzeitig tischen die Kriminellen ihren Opfern eine Lügengeschichte auf – über angebliche Notlagen. Das Ziel: das Opfer dazu bringen, Geldbeträge zu übergeben.
Mal Schamanin, mal Flüchtling
Die Ermittler werden herausfinden: Die Frau in Zug ist nicht das einzige Opfer von Kristina. Es ist auch nicht die einzige Masche, mit der die Betrügerin arbeitet. Einmal gibt sie einem Spaziergänger mit seinem Hund in Zürich vor, eine geflüchtete Syrerin zu sein, die sich nach einem Gesprächspartner sehne.
Die Geschichte, die sie ihm auftischt, ist so dramatisch wie erlogen. Sie habe vor der Terrormiliz Islamischer Staat flüchten können – gemeinsam mit ihren beiden 7- und 13-jährigen Söhnen. Der ältere habe jedoch in der Türkei zurückbleiben müssen. Er benötige eine Nierentransplantation, und um die Operation begleichen zu können, brauche sie 5000 Franken.
Der Mann zahlt. Bis sich die Italienerin plötzlich nicht mehr meldet.
Ähnlich ergeht es einem Fotografen, den die Frau im Zürcher Irchelpark anspricht. Sie sei mit einer Fellmütze dagestanden und habe blass gewirkt, erzählt der Mann der NZZ. Sie habe ihm gesagt, sie brauche jemanden zum Reden. Und dann habe sie ihm die Geschichte ihrer Flucht aus der ukrainischen Stadt Odessa geschildert. Ihr Ehemann sei im Krieg umgekommen – und sie sei mit ihren beiden Söhnen nach Zürich gereist.
Nun lebe sie ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz und putze. Doch sie habe den letzten Monatslohn nicht erhalten, könne ihre Miete nicht mehr bezahlen und brauche nun dringend Geld, weil ihr sonst der Rauswurf drohe.
Der Mann sagt zur NZZ, er habe zwar Zweifel an der Geschichte gehabt. «Aber etwas in mir sagte: ‹Und wenn die Geschichte nun doch stimmt?› Ich hätte es mir nicht verziehen, jemandem in Not nicht geholfen zu haben.» Sie habe ihm auch erzählt, er könne sich bei der Anlaufstelle für Sans-Papiers nach ihr erkundigen. Dort sei sie gemeldet.
Der Mann übergibt ihr schliesslich 1000 Franken.
Richter: «Das ist wirklich das Allerletzte»
Im November 2024 verhaften die Ermittler die kriminelle Schamanin. Schliesslich gesteht sie ihre Rolle beim Betrug. Deshalb erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage im abgekürzten Verfahren gegen die 36-Jährige, wegen gewerbsmässigen Betrugs.
Die Italienerin habe mit den Betrügereien ihren Lebensunterhalt bestritten, schreibt die Zürcher Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage. Und: Sie habe geplant, eine Vielzahl von solchen Delikten zu begehen.
Knapp fünf Monate später führen zwei Polizisten Kristina in schwarzem Mantel, Rollkragenpullover und an den Händen gefesselt zum Saal des Bezirksgerichts Zürich.
Dort erzählt Kristina eine dramatische Geschichte. Sie habe nach der Trennung von ihrem Partner Geldschulden gehabt. Der Mann habe ihr Leben finanziert. Er habe sie aber auch immer wieder geschlagen und bedroht. Seinen Namen will sie nicht nennen – aus Angst, dass er ihr und ihren vier Kindern etwas antut.
Der Polizei hat sie die Drohungen und die Gewalt nie gemeldet. «Aber was hätte die Polizei machen können?», fragt sie. «Ich hatte Angst, dass sie ihn nicht aufhalten können.» Und so habe sie Menschen betrogen, die ihr geholfen hätten, obwohl sie sie belogen habe.
Bloss: Wer glaubt einer Berufslügnerin ihre Geschichte? Und da sind die Auffälligkeiten: Bereits zwei Mal war die 36-jährige Italienerin zuvor wegen Betrügereien verurteilt worden. Einmal sass sie deswegen in Deutschland, wo sie mit ihrer Familie lebt, mehrere Monate in Untersuchungshaft. Und da ist das Vorgehen, das exakt dem Drehbuch der kriminellen Clans entspricht.
Das Bezirksgericht hat dem Deal zwischen der Staatsanwaltschaft und Kristina am Donnerstag zugestimmt. Es erhöht allerdings die bedingte Freiheitsstrafe von 18 auf 20 Monate. Zudem kassiert die Betrügerin einen Landesverweis von sieben Jahren.
Dem Richter platzt bei der Urteilseröffnung beinahe der Kragen. «Was geht in Ihnen eigentlich vor?», fragt er. «Sie zeigen null Mitgefühl. Scheinbar ist es bei ihnen nicht angekommen, dass man einem Menschen nicht sagt, er sei verflucht und könne deshalb sterben. Das ist wirklich das Allerletzte.»
Die Geschichte, die sie dem Gericht aufgetischt habe, nehme er ihr nicht ab. Sie nenne ihren Ex-Partner nicht, der sie angeblich bedroht haben solle. Sie sage nicht, wo sie sich in der Schweiz aufgehalten habe. «Ich weiss nicht, ob ich Ihnen noch etwas glauben soll. Was da gemacht wurde, das ist wirklich ganz schlimm.» Er hoffe, sie habe nun etwas verstanden.
Die 36-Jährige nickt bloss und sagt: «Ich habe es verstanden.»
Urteil DH 250 021 vom 27. 3. 25.