Sonntag, September 29

Der Brite ignoriert die Zeichen der Zeit nach seinem desaströsen K.o. gegen Daniel Dubois. Joshua will weiter boxen – solange er damit Millionen verdient.

Anthony Joshua fällt es nicht leicht, andere Profiboxer zu loben. Und so fiel sein Kompliment für Daniel Dubois, der ihn am Samstagabend vor 96 000 Zuschauern in der Wembley-Arena binnen dreizehn Minuten demontiert hatte, eher pflichtgemäss aus.

Der zweifache frühere Weltmeister im Schwergewicht erwähnte einen «scharfen Widersacher», ohne dessen Namen zu nennen, als erste Ursache für die vierte Pleite in zwölf Berufsjahren. An zweiter Stelle führte Joshua eigene Unzulänglichkeiten an: Es seien «eine Menge Fehler von meiner Seite» gemacht worden. Danach bemühte der Brite das Bild des Glücksspiels: Er und sein Team hätten beim Kampf gegen seinen Landsmann um den WM-Titel des Box-Verbands IBF «um den Erfolg gewürfelt» und dabei eben «den Kürzeren gezogen».

Joshua lässt sich auf eine wilde Keilerei ein

Einfach der falsche Tag? Wer genauer hingeschaut hat, wird sich mit solch lapidaren Formeln kaum zufriedengeben. Es war grausig, wie der 1,98 Meter grosse Hüne aus Londons Norden zwölf Jahre nach dem Olympiasieg beinahe alle Regeln der Boxschule über den Haufen warf, und sich auf eine wilde Keilerei einliess – ausgerechnet gegen einen der gefürchtetsten Puncher im Schwergewicht. In der ersten Runde liess er sich von einem weit hergeholten Schwinger erwischen und zu Boden strecken. Vor dem brachialen Ende ging er, angestachelt von zwei eigenen Volltreffern, mit dem ungeschützten Kopf voran tatsächlich «all in» – bis ihn ein kurzer, wuchtiger Haken zum Kinn entscheidend zu Boden brachte. Ein Anfängerfehler, vorgeführt vom einst besten Schwergewichtler seiner Ära.

Mindestens vier Mal war «AJ», wie der Sohn nigerianischer Zuwanderer sich nennen lässt, in dem spektakulären Kampf zu Boden gegangen. Beim fünften und sechsten Mal retteten ihn die Ringrichter und der Pausengong. So konzeptlos hat man den Modellathleten nicht einmal 2019 in New York erlebt, als er sich, ähnlich schlecht eingestellt, vom unbesungenen US-Boxer Andy Ruiz Jr. auseinanderschrauben liess.

Dabei standen die Zeichen dieses Mal günstiger. Hatte er nach den Punktniederlagen gegen Oleksandr Usyk (2021 und 2022) nicht bei jeder Gelegenheit von «Rededication» gesprochen, von der Rückbesinnung auf das also, was ihn als Athleten ausmacht? Und wirkte er in den drei siegreichen Kämpfen zuvor nicht wieder so pur, so konzentriert wie einst beim steilen Aufstieg an die Weltspitze?

Dorthin schaffte er es an jenem denkwürdigen Abend im April 2017, als der damals 27-Jährige an gleicher Stelle, in Wembley, den 14 Jahre älteren Wladimir Klitschko nach dramatischen Wendungen vorzeitig besiegte Auch da hatte Joshua mehrmals gewackelt, war am Ende aber einmal mehr aufgestanden als der Ukrainer. Als Lohn erhielt der strahlende Sieger zwei der wichtigsten WM-Gürtel sowie die Adelung des Unterlegenen, der ihm eine glanzvolle Karriere prophezeite.

In der Folge verdiente Joshua mit Hilfe seines Promoters Eddie Hearn mit Auftritten zwischen Cardiff, London und Saudiarabien bis heute mehrere hundert Millionen Dollar. Die Summen, die er für lukrative Werbeverträge erhält, sind dabei noch nicht eingerechnet.

Doch am vergangenen Samstag hiess der 27-jährige Aufsteiger im Wembley Daniel «Dynamite» Dubois alias «DDD» – derweil Joshua gut drei Wochen vor seinem 34. Geburtstag den horizontalen Senior gab. Obwohl dieses Alter für einen Schwergewichtler noch nicht alarmierend ist, drängte sich der Eindruck auf, dass sich in der Wembley-Arena ein Kreis geschlossen hat: Joshua war bisher technisch und strategisch meist der bessere Kämpfer, ehe er zwei Mal von Oleksandr Usyk übertroffen wurde. Ausserdem galt er lange als gefährlicher Puncher – doch nun hat ihn Dubois in dieser brutalen Kunst übertroffen. Die amerikanische Ringlegende Archie Moore sagte einst: «Das Alter ist wie ein Bulldozer. Es räumt dich aus dem Weg, sobald du aufhörst, dich zu bewegen.»

Joshua will weitermachen

Was könnte Anthony Joshua also noch erreichen, siebeneinhalb Jahre und dreizehn Kämpfe nach seinem Erfolg gegen Klitschko? Die oberste Etage in seinem Kampfgewicht wird von zwei Weltmeistern dominiert, gegen die er bereits verloren hat: Usyk und Dubois. Bliebe also noch Tyson Fury als letzte Option für einen nächsten Megafight. Doch der begnadete Exzentriker aus Mittelengland will im Dezember zunächst Revanche nehmen für seine Niederlage im ersten WM-Kampf um alle vier Titel gegen Usyk. Was danach kommt, weiss keiner.

So gäbe es für «AJ» nach 32 Kämpfen (28 Siege) wohl keinen besseren Ausstieg aus dem gefährlichen Geschäft als in diesem Herbst. Dazu raten ihm auch englische Beobachter. «Joshua sollte sein Vermögen auf der sicheren Seite der Seile geniessen», schrieb etwa der «Guardian».

Doch genau das schliesst der einst beste Boxer der Welt offenbar aus. Solange sein Name noch Stadien füllt, will Joshua die Riesenbeträge und Beteiligungen an den Live-Streams mitnehmen. Den starken Greif-Reflex erklärt er mit der Erfahrung, in einer mittellosen Familie aufgewachsen zu sein. So liebäugelte der Verlierer noch im Bauch der Wembley-Arena mit einem Rematch gegen Dubois. Die Fallhöhe ist allerdings riesig: Manch alternder Box-Star hat im Ring nicht nur Reputation, sondern auch einen kostbaren Teil seiner Gesundheit verloren. Das ist durch keine Summe der Welt zu kompensieren.

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