Seine Angehörigen finanzierten ihm die Sportkarriere einst mit Hypotheken, die letzten Jahre waren für Wilson ein Albtraum. Doch seine Hartnäckigkeit hat ihn nun zum grossen Erfolg geführt.
Für das Siegerfoto ordnete der neue Snooker-Weltmeister Kyren Wilson seine Familienmitglieder so strukturiert an, wie er zuvor jeweils die weisse Spielkugel auf dem Snooker-Tisch platziert hatte, um die farbigen Objektkugeln der Reihe nach zu versenken. Seine beiden Söhne sassen neben dem Siegerpokal auf der mit Konfetti übersäten grünen Spielfläche, dahinter standen er und seine Frau. Danach liess sich Wilson mit seinem Bruder fotografieren und dann mit den Eltern.
Dem Engländer war es ein grosses Anliegen, dass sein erster Weltmeistertitel als Familienerfolg verstanden wird – denn diese hatte ihn seit der Kindheit massgeblich unterstützt und zu seinem bisherigen Karrierehöhepunkt am Montagabend verholfen.
Kyren Wilson’s son: “Get in there!” 🙂#snooker #ilovesnooker @KyrenWilson
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Mit 18:14 Frames setzte sich Wilson im zweitätigen WM-Final gegen den Waliser Jak Jones am Montagabend im Crucible Theater zu Sheffield durch. In der ehrwürdigen Spielstätte mit knapp 1000 Zuschauern findet seit dem Jahr 1977 das wichtigste Snooker-Turnier des Jahres statt. Dabei nutzte Wilson seinen Vorsprung aus, den er sich in der ersten von vier Spiel-Sessions tags zuvor erspielt hatte: Er gewann die ersten sieben Frames in Folge.
Die Vorentscheidung fiel im dramatischen 28. Duell der beiden Kontrahenten beim Spielstand von 16:11, als die schwarze Kugel wegen Punktgleichstand am Schluss neu aufgelegt werden musste – Wilson versenkte sie sehenswert und etwas glücklich über drei Banden. Trotz Jones› unwahrscheinlicher Aufholjagd behielt Wilson die Nerven.
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Der 32-Jährige verlor die Contenance erst, als ihm der Sieg nach dem erfolgreichen Stoss einer roten Objektkugel de facto nicht mehr zu nehmen war. Zu diesem Zeitpunkt lag er bei noch 51 verbleibenden Punkten mit 54 Zähler vorn. Zwei Mal hintereinander stiess er ein lautes «Come on» aus, ballte die Faust und streckte vor Erleichterung die Zunge raus. An der Siegerehrung entschuldigte er sich bei Jones für den emotionalen Ausbruch – der Erfolg hätte ihm so viel bedeutet.
Als Zugabe lochte Wilson unter den Beifallsbekundungen des Publikums die blaue, eine weitere rote und die schwarze Kugel problemlos ein. Doch weiter kam Wilson beim Leerspielen des Tisches nicht mehr, er hatte Tränen in den Augen. «Ich kann nichts mehr sehen», stammelte er. Später sagte er, er werde diesen Moment nie mehr vergessen.
2020 zog er gegen Ronnie O’Sullivan noch den Kürzeren
Bei seinem ersten Welt-Final 2020 war die Zuschauerzahl wegen der Corona-Pandemie noch stark beschränkt worden. Damals deklassierte ihn der mittlerweile siebenfache Champion Ronnie O’Sullivan. Von dieser Erfahrung profitierte Wilson nun bei seinem zweiten Anlauf. Er habe vor Beginn des Finals gesehen, dass sein Gegner erschöpft ausgesehen habe – so, wie er selbst damals vor dem Match gegen O’Sullivan. Deshalb habe er zu sich gesagt, er müsse das Spiel «sofort nach Hause bringen».
Wilson erhält für den Weltmeistertitel eine halbe Million Pfund und rückt auf den dritten Weltranglistenplatz vor. Bei diesem Turnier war er an Position zwölf gesetzt – sie erwies sich als eine Glückszahl. Auf dem Weg zum Turniersieg musste Wilson keinen besser klassifizierten Kontrahenten bezwingen.
Die hoch gehandelten O’Sullivan und Judd Trump scheiterten jeweils überraschend im Viertelfinal, der als Weltranglistenerster ins Turnier gegangene Luca Brecel sogar schon in der ersten Runde. So schafften es erstmals seit 1977 drei Qualifikanten ins Halbfinal – darunter der bis hierhin kaum in Erscheinung getretene Trump-Bezwinger Jones. Der 30-Jährige spielte sich durch den Finaleinzug in die Weltspitze vor.
Mit 19 Jahren flog Wilson aus der Profi-Tour
Dass Kyren Wilson eines Tages Weltmeister werden könnte, wurde ihm schon als Kind vom früheren Champion Peter Ebdon prophezeit. Trotz seiner Begabung musste er viele Widerstände überwinden. Als 19-Jähriger fiel er nach nur einer Saison aus der Profi-Tour und scheiterte bei zwei Versuchen, sich seinen Platz wieder zu erspielen. Er kehrte in seine Heimatstadt Kettering in Mittelengland zurück und arbeitete neben dem Training in einer Bar. Erst nach drei Jahren kehrte er in den Spitzensport zurück; sein erstes Master-Turnier gewann er 2015 in Shanghai.
Auch finanziell und gesundheitlich musste sich Wilson durchkämpfen. Sein Spitzname ist «The Warrior», der Kämpfer. Immer wieder stützten ihn die Eltern und der Bruder, sie hätten «ihr ganzes Leben» für ihn geopfert, sagte er nach dem WM-Sieg. Sie nahmen unter anderem Hypotheken auf, um seine sportlichen Ambitionen zu fördern. Zuletzt benötigte sein Sohn ernsthafte medizinische Hilfe und seine Frau erlitt – wohl deswegen – einen Schlaganfall. Sie musste ihren Führerschein abgeben, was unmittelbare Auswirkungen auf das Trainingsprogramm von Wilson hatte.
Die vergangenen Jahre seien «ein Albtraum» gewesen, gestand Wilson. Es sei schwer gewesen, das alles auszublenden und mit der Arbeit weiterzumachen, aber er liebe diesen Sport nun einmal. Er habe gewissermassen seine Seele an Snooker verkauft – und das hätte ihn letztlich zu diesem Erfolg geführt. Umso schöner sei es jetzt, dass er sich bei der Familie mit diesem Triumph ein bisschen revanchieren könne. Seine Söhne fielen ihm auf der Bühne herzlich in die Arme. Einer von ihnen rief ihm dabei staunend zu: «Du bist Weltmeister!»