In kaum einem westlichen Land ist das regionale Wohlstandsgefälle grösser als in Grossbritannien. Der Labour-Politiker und Bürgermeister von Manchester, Andy Burnham, sagt, dass sich die Ungleichheiten nur mit radikalen Reformen beheben liessen.
Andy Burnham war ein Teenager, als die konservative Premierministerin Margaret Thatcher in den achtziger Jahren Grossbritannien regierte. Die eiserne Lady nahm den Kampf mit den Gewerkschaften auf, liess unrentable Fabriken und Minen schliessen und setzte im öffentlichen Verkehr weitgehende Privatisierungen durch. Auch die Buslinien in den meisten englischen Städten wurden in die Hände von Privatfirmen übergeben. Vierzig Jahre später hat nun Andy Burnham als Bürgermeister Manchesters die Privatisierung der Buslinien wieder rückgängig gemacht – was der Labour-Politiker im Gespräch mit europäischen Korrespondenten in seinem Büro als grosse politische Errungenschaft verkauft.
«Während Jahrzehnten waren die Leute wütend über den schlechten und teuren Busservice», erklärt Burnham. Wenn der Bus nicht aufgekreuzt sei, sei niemand politisch in der Verantwortung gestanden. Der öffentliche Verkehr wurde auch zum Symbol für die Ungleichheit zwischen Nordengland und London. In der Hauptstadt blieb der Staat für die Tube und die zweistöckigen roten Busse zuständig, ein dichter Fahrplan garantiert Verbindungen quer durch die Metropole. «Im Rest des Landes aber liess man den öffentlichen Verkehr verkümmern», sagt Burnham. «Die meisten Politiker verbringen zu viel Zeit in Westminster und haben nur London im Blick.»
Englischer Flickenteppich
Der 54-Jährige war selbst Unterhausabgeordneter in Westminster, wobei er unter Tony Blair und Gordon Brown zwischen 2007 und 2010 unter anderem als Junior-Finanzminister und Gesundheitsminister diente. 2015 bewarb er sich um den Vorsitz der Labour-Partei, verlor aber deutlich gegen den Altlinken Jeremy Corbyn. Seit 2017 bekleidet er das damals neu geschaffene Amt des Bürgermeisters der Metropolitanregion Manchester, von wo aus er sich als rhetorisch versierter Fürsprecher Nordenglands in Szene setzt. Bei den 2,8 Millionen Einwohnern des Grossraums Manchester ist der charismatische Familienvater beliebt, weshalb er bei den Lokalwahlen vom 2. Mai zum dritten Mal gewählt werden dürfte.
Burnham ist ein Produkt der Bemühungen Grossbritanniens, mehr Dezentralisierung zu wagen. Um die Jahrtausendwende hat der Zentralstaat Schottland, Wales und Nordirland Kompetenzen abgetreten. In den drei Regionen sind eigene Parlamente und Regierungen entstanden, die etwa in der Gesundheits- oder der Bildungspolitik weitreichende Kompetenzen haben.
England hingegen hat kein eigenes Regionalparlament, sondern wird direkt von der Zentralregierung in Westminster regiert. Unter der obersten Staatsebene hat die Dezentralisierung England einen unübersichtlichen Flickenteppich beschert. Während London seit 25 Jahren einen Bürgermeister und ein Parlament mit gesetzlich definierten Kompetenzen kennt, sind ähnliche Institutionen in anderen Städten in den letzten Jahren gewachsen.
Erst 2023 trat die Regierung von Rishi Sunak gewissen Bürgermeistern – darunter auch Burnham – zusätzliche Kompetenzen in Bereichen wie Verkehr oder Wohnpolitik ab. Nun unterscheiden sich die Befugnisse der «Metro-Mayors» je nach Stadt. Die Regionalverwaltungen funktionieren wie ein Ministerium des Zentralstaats und werden direkt aus dem britischen Budget finanziert.
Grosse strukturelle Ungleichheiten
Für Andy Burnham sind diese Bemühungen um Dezentralisierung nötige, aber nicht hinreichende Schritte, um die Ungleichheit zwischen dem Norden und dem Süden Englands zu beheben. Tatsächlich ist das regionale Wohlstandsgefälle in England viel grösser als in den meisten OECD-Ländern. In Nordengland beträgt das Pro-Kopf-Vermögen rund 200 000 Pfund (225 000 Franken) – halb so viel wie im englischen Südosten. Die Wirtschaft im Grossraum London ist fast doppelt so produktiv wie der Durchschnitt des restlichen Königreichs.
Mit der regionalen Ungleichheit erklärt Burnham auch den Brexit, der in den ehemaligen Labour-Hochburgen im postindustriellen Nordengland besonders grosse Zustimmung fand. Die Volksabstimmung von 2016 sei ein Ruf der Peripherie nach radikalem Wandel gewesen, der sich gegen Brüssel, aber auch gegen London gerichtet habe, sagt Burnham.
Der ehemalige Premierminister Boris Johnson erkannte dies: Er gewann die Parlamentswahl 2019 auch dank dem Versprechen, mit dem Schlagwort «levelling up» die regionalen Unterschiede auszugleichen. «Boris hat die Notwendigkeit von Reformen verstanden, aber er hatte nicht die nötige Charakterstärke, um sie auch umzusetzen», erklärt Burnham. Laut einem Bericht eines Unterhausausschusses hat die Regierung mangels konkreter Ideen bisher bloss zehn Prozent der Mittel ausgegeben, die in einem Fonds für die Ausmerzung der regionalen Ungleichheiten geäufnet worden waren.
Redimensioniertes Bahnnetz
«Die Vernachlässigung Nordenglands ist Teil des politischen Systems und Teil der politischen Kultur», behauptet Burnham. Als Beispiel nennt er die Pandemie, als die Zentralregierung Manchester und Liverpool länger im Lockdown beliess als London, aber den nordenglischen Betrieben tiefere Entschädigungen auszahlte. «Gegenüber dem Süden Englands hätte sich die Regierung das nie erlaubt.»
Dann nennt Burnham den Entscheid von Rishi Sunak, im Herbst 2023 den Bau des Hochgeschwindigkeitszuges HS2, der den Norden Englands besser mit London hätte verbinden sollen, radikal zurückzustutzen und die Strecke nicht nach Manchester zu führen. «Es war unglaublich unverfroren, dass Sunak diesen Entscheid ausgerechnet in Manchester ohne Rücksprache mit uns verkündete», sagt Burnham.
Und schliesslich erzählt der Bürgermeister von einem Schlüsselmoment aus seiner Zeit als Junior-Finanzminister in der Regierung von Gordon Brown. Damals sei er beauftragt worden, ein Finanzierungspaket zu schnüren für den Bau der 2022 eröffneten Elizabeth Line, welche die Fahrtzeit mit der Tube vom Westen in den Osten Londons halbiert. Er habe versucht, die Finanzierung mit einem Bahnprojekt für den Norden Englands zu verknüpfen. Doch habe kein Projekt den verwaltungsinternen Test für den gesamtwirtschaftlichen Nutzen bestanden, da die Bedeutung Nordenglands für die nationale Wirtschaftsleistung schlicht zu klein sei.
Hoffen auf Labour?
Burnham glaubt, dass Grossbritannien die strukturellen Ungleichheiten nur mit einer radikalen Reformagenda von unten nach oben überwinden kann: «Man muss den britischen Staat komplett neu verkabeln.» Er verlangt mehr Dezentralisierung und die Errichtung einer Parlamentskammer für die Regionen anstelle des House of Lords. Er fordert die Abschaffung der Fraktionsdisziplin in Westminster, was auch regionale statt parteipolitische Allianzen ermöglichen würde. Und er spricht sich für mehr Finanzautonomie für die darbenden britischen Kommunen aus, die derzeit vom britischen Zentralstaat «ausgehungert» werden, wie es Burnham formuliert.
Traut er der Labour-Partei unter der Führung des übervorsichtigen Oppositionschefs Keir Starmer, der bei den im Verlauf des Jahres anstehenden Unterhauswahlen an die Macht kommen könnte, eine solch radikale Reformagenda zu? Andy Burnham zögert. «Als Tony Blair 1997 gewählt wurde, waren die Erwartungen riesig, aber wir brauchten Zeit, bis wir etwas liefern konnten», sagt er schliesslich. «Heute sind die Erwartungen tiefer, aber dafür sind wohl Labours Fähigkeiten grösser, politische Ideen rasch umzusetzen.»

