Samstag, Oktober 19

670 PS und eine Höchstgeschwindigkeit von 351 Kilometern pro Stunde: Der Bugatti EB110 SC war seiner Zeit voraus. Noch heute ist er ein Symbol für technische Innovation und Rennsportleidenschaft.

Als Bugatti Mitte September 1991 den EB110 in Paris vorstellt, stehen Autofans kopf: Mit 1,11 Metern Höhe ist er flach wie eine Flunder, hat schmale Scheinwerfer und Türen, die sich weit nach oben öffnen. Unter der Motorhaube arbeitet im Heck ein 3,5-Liter-V12 mit vier Turboladern und mindestens 560 PS, der die Kraft auf alle vier Räder verteilt.

Es sind nicht nur diese überragende Technik und die enorme Leistung des neuen Sportwagens, mit denen Bugatti die Ära der Supersportwagen eröffnet. Zeitgleich erwacht die Marke Bugatti aus dem Tiefschlaf – mit der ersten Neuerscheinung seit 1956.

Bugatti bringt das Coupé als EB110 GT (Gran Turismo) sowie wenig später die leichtere und stärkere Variante EB110 S (Sport Stradale, später SS) auf den Markt. Der EB110 kostet 690 000 Deutsche Mark, inklusive Wartungsvertrag mit dreijährigem, kostenlosem Austausch aller Verschleissteile. Nur wenige Serienautos baut Bugatti, die Formel-1-Ikone Michael Schumacher kauft sich einen EB110 in Gelb. Auch zwei Rennwagen entstehen. Diese sind anfangs gar nicht geplant, Renneinsätze spielen bei der Entwicklung zunächst keine Rolle.

Bereit zur Probefahrt

Ein solches Fahrzeug steht nun vor uns zur Probefahrt bereit. Weit öffnet die Scherentür nach vorne, das Lenkrad lässt sich über einen Schnappverschluss leicht abziehen. Mit einem grossen Ausfallschritt geht es über den breiten Seitenschweller und die Verstrebung des Käfigs in den Innenraum. Die Sitze liegen eng an, die Vierpunktgurte hängen zum Anschnallen bereit. Wie in einer Flugzeugkanzel begrüssen viele Rundinstrumente und Kippschalter den Piloten, in der Mitte liegt ein digitales Display. Kein Wunder: Dieser EB110 SC fuhr einst beim legendären 24-Stunden-Rennen in Daytona mit. Damals am Steuer: der amerikanische Rennfahrer Derek Hill, Sohn des früheren Formel-1-Weltmeisters Phil Hill.

Bevor wir losfahren, müssen wir das Lenkrad wieder aufstecken, uns anschnallen und den Startknopf drücken. Sofort erwacht im Heck der 3,5-Liter-V12. Doch statt penetrant aufzubrüllen, bleibt die Kraft im Verborgenen. Zwei Nockenwellen pro Zylinderbank und fünf Ventile pro Brennraum, insgesamt sechzig Ventile, säuseln in der Warmlaufphase einige Minuten dezent im Hintergrund – 15 Liter Motoröl wollen schonend aufgewärmt werden.

Bei betriebsbereitem Öl liegt die Höchstdrehzahl beim Serientriebwerk schon über 8250 Umdrehungen pro Minute, der Rennmotor dreht bis maximal 8000 Touren. Doch so hohe Drehzahlen sind auf der kurzen Testfahrt gar nicht nötig. Es geht nur über eine kurze Zufahrtsstrasse bis zu einem Wendepunkt. Erster, zweiter Gang, vielleicht der dritte – das war’s. Kurz anbremsen, das Lenkrad auf Anschlag eindrehen und wieder zurück. Die Gänge wechseln über den ultrakurzen Schalthebel, verteilen die Kraft auf alle vier Räder – mit einer hecklastigen Antriebsmomentenverteilung von 27 zu 73 Prozent.

Links neben dem Lenkrad mit Wildlederbezug liegt mahnend eine Anzeige für den Turboladerdruck – aus einem Flugzeug entliehen. Rennfahrer behalten diese Uhr besser im Blick. Denn das, was ab rund 4000 Touren im Innenraum passiert, gleicht einem Raketenstart: Die vier Turbolader mit Ladeluftkühlung schnappen kurz nach Luft und drücken mit über 2,26 Bar Luft in die zwölf Brennräume – für bis zu 670 PS.

Wie eine Peitsche knallt es kurz durch die Luft, und der EB110 schlägt vor lauter Beschleunigung heftig in den Rücken. Leistet der Basis-EB110 anfangs 560 PS, kommt der EB110 SS auf 610 PS. Der Rennwagen EB110 SC leistet je nach Renneinsatz, Reglement und Luftmengenbegrenzer zwischen 600 und 640 PS – nicht schlecht für einen fast dreissig Jahre alten Rennwagen.

Von 0 auf 100 km/h sprintet der EB110 in bis zu 3,26 Sekunden und ist damit das schnellste Serienauto seiner Zeit. Die Höchstgeschwindigkeit liegt bei 351 km/h, der mehr auf Kurvenfahrten ausgelegte SS fährt bis zu 335 km/h schnell. Der Rennwagen schafft es in 3,1 Sekunden und fährt je nach Rennstrecke und Getriebeübersetzung bis zu 337 km/h.

Doch die eigentliche Überraschung bleibt die Alltagstauglichkeit. Auch wenn die Kupplung eine ausgeprägte Wadenmuskulatur und das Lenkrad kräftige Oberarme verlangt – der EB110 fährt sich leicht, liegt gut in der Hand und reagiert spontan auf alle Befehle.

Modernste Produktionsanlage in Europa

Dass es den EB110 überhaupt gibt, geht auf Romano Artioli zurück. Der Italiener erwirbt 1987 die Namensrechte von Bugatti, gründet zwei Jahre später die Bugatti Automobili SpA und baut die modernste Produktionsanlage in Europa. Der Ferrari-Händler und Suzuki-Importeur ist begeisterter Bugatti-Sammler. Er will die Marke wieder zum Leben erwecken, die modernsten, besten und schnellsten Supersportwagen bauen.

Als Standort wählt Artioli nicht den historischen Sitz der Familie Bugatti in Molsheim, Frankreich, sondern Campogalliano. Der Ort in der Emilia-Romana liegt in direkter Nachbarschaft von grossen Sportwagenmarken wie Lamborghini, Ferrari und Maserati.

Romano Artioli entwickelt mit abgeworbenen Mitarbeitern seiner künftigen Wettbewerber innerhalb kürzester Zeit ein komplett neues Fahrzeug mit neuem Motor und überragender Technik. Der Name wird zu einer tiefen Verbeugung vor dem Firmengründer Ettore Bugatti: EB steht für Ettore Bugatti, 110 für seinen 110. Geburtstag, der mit dem Tag, an dem der EB110 vorgeführt wird, zusammenfällt. Zur Präsentation in Paris kommen vor rund dreissig Jahren fast 2000 geladene Gäste, drei EB110 fahren über die Champs-Élysées.

Schon die Serienautos sind ihrer Zeit weit voraus, ein Rennwagen scheint anschliessend eine logische Konsequenz zu sein. Der Designer und Architekt Giampaolo Benedini glaubt fest an den Erfolg und überlegt 1993, wie es wäre, wenn Bugatti wieder an Motorsportveranstaltungen teilnähme – wie ab 1909 unter dem Firmengründer Ettore Bugatti.

Benedini ist kein Unbekannter: Er verfeinert nicht nur den EB110-Entwurf von Marcello Gandini (Designer der Modelle Lamborghini Miura und Countach, Lancia Stratos), sondern auch jenen für die Fabrik. Zudem ist er begeisterter Rennfahrer.

Jede Schraube ist aus Titan

Doch die Hürden für die Entwicklung des Rennwagens sind hoch, der EB110 ist als Strassenauto konzipiert. Auch wenn die verwendeten Materialien erlesen sind und sich am Motorsport orientieren: Erstmals bei einem Serienauto besteht das Monocoque aus Carbon – und wiegt nur 125 Kilogramm. Für die Karosserie kommen Aluminium, Carbon und aramidfaserverstärkter Kunststoff zum Einsatz, die Räder werden aus Magnesium gegossen, jede Schraube ist aus Titan.

Ein Rennwagen nach bestimmten Klassements muss aber nach strengen Reglements aufgebaut werden. Die Entwicklungsabteilung «Reparto Esperienze» überlegt. Und handelt. Im Mai 1994 rollt der blau lackierte EB110 S LM auf die Strecke von Le Mans und brennt beim Qualifying eine respektable Zeit in den Asphalt. Doch beim Rennen muss der Bugatti nach 230 Runden wegen eines unverschuldeten Unfalls aufgeben.

Der monegassische Unternehmer Gildo Pallanca Pastor ist von der Performance des neuen Autos aber tief beeindruckt – und bestellt sich für sein Monaco Racing Team (MRT) gleich drei Rennwagen. Die sollen in der nordamerikanischen Imsa-GTS-1-Meisterschaft starten, aber auch in der BPR Global GT Series und in Le Mans. Nur ein Auto wird fertig. Am 14. Juni 1995 verlässt der EB110 S SC mit der Fahrgestellnummer S44 die Hallen und startet bei Rennen in den USA, danach in Japan. In Suzuka fällt der Bugatti nach 104 Runden wegen Getriebeproblemen aus, und das angeschlagene Auto kommt zurück ins Werk.

Bugatti schliesst wegen Insolvenz

Auch der Erfolg der Serienautos des EB110 bleibt aus. Nur 128 Fahrzeuge inklusive Prototypen und Werksrennwagen entstehen im Bugatti-Werk. Der Markt für Supersportwagen bricht Mitte der 1990er Jahre komplett ein. Zugleich bahnt sich ein Streit mit Zulieferern an, und es gibt Probleme mit dem Hersteller Lotus. Das britische Unternehmen kauft Romano Artioli quasi gleichzeitig mit Bugatti. Am Ende gibt es zu viele Baustellen und Probleme, so muss Artioli Bugatti wegen Insolvenz schliessen. Die letzten Modelle, die die Fabrik verlassen, sind die beiden Rennwagen.

Gildo Pallanca Pastor schafft es, den EB110 SC aus der Konkursmasse zu retten. Er startet im Januar 1996 in Daytona ohne die Unterstützung des Bugatti-Werks, danach stehen die Vorbereitungen zu den 24-Stunden-Rennen von Le Mans an. Bei einem Vorbereitungsrennen in Dijon im Juni 1996 ist der EB110 gut beim Training unterwegs, zeitweise auf dem dritten Platz. Beim Rennen kollidiert der Wagen allerdings in der zweiten Runde mit jenem eines anderen Teilnehmers und fällt aus. Mangels Ersatzteilen kann das Team den Bugatti nicht mehr reparieren – es sollte das letzte Rennen des EB110 SC werden.

Die Preise des EB110 stiegen in den vergangenen Jahren deutlich. Nach einer Analyse von Classic Analytics, einem Unternehmen zur Marktbeobachtung und Bewertung von Oldtimern weltweit, stieg der Wert des Bugatti EB110 GT von 280 000 Euro im Jahr 2011 auf rund 1,2 Millionen Euro, ein EB110 SS wird derzeit mit rund 3 Millionen Euro gehandelt.

«Der Wert eines der einzigen zwei Rennwagen dürfte deutlich höher liegen», sagt Frank Wilke, Geschäftsführer von Classic Analytics. «Aber den zahlt eher ein absoluter Bugatti-Sammler als ein Rennwagen-Sammler, da die Autos eine Bedeutung für die Firmengeschichte haben, nicht jedoch für den Motorsport.»

Der EB110 erfülle alle Anforderungen eines wertsteigernden Klassikers: Mit V12-Motor, vier Turboladern und Allradantrieb besitzt der Supersportwagen eine aussergewöhnliche Technik und enorme Fahrleistungen, dazu ist er mit nur 128 gebauten Werksfahrzeugen ausgesprochen exklusiv. Das findet auch die diesjährige Jury des Concours d’Elegance in Pebble Beach: Dort belegt der EB110 SC den zweiten Platz in der Klasse «BPR & FIA GT Race Cars».

1998 zieht Bugatti zurück ins französische Molsheim. Dorthin, wo 1909 Ettore Bugatti sein erstes Auto unter eigenem Namen selbst baute. Die Marke baut zwar unter dem Dach des Volkswagen-Konzerns seit 2005 wieder mit dem ersten Veyron 16.4 Supersportwagen – aber keine Rennwagen für offizielle Rennen. Der EB110 SC war der Letzte seiner Art.

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