Der Fall eines mutmasslichen russischen Agenten wirft ein Schlaglicht auf ein ungelöstes Sicherheitsproblem des Bundes.

Ein reibungsloser Ablauf, weniger Cyberattacken als erwartet und kaum nennenswerte Zwischenfälle: Sicherheitstechnisch war die Bürgenstock-Konferenz ein voller Erfolg. Das ist zumindest das offizielle Bild, das die Verantwortlichen am Montag vermittelten. Was bislang nicht bekannt war: Die Behörden des Bundes führten vor der Konferenz mehrere Aktionen gegen mutmassliche russische Agenten durch.

Ein russischer Diplomat soll versucht haben, in der Schweiz Waffen und Stoffe zu beschaffen, die auch für Attentate eingesetzt werden könnten, wie die Tamedia-Zeitungen schreiben. Der mutmassliche Agent war als Diplomat in Bern akkreditiert. Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) habe die Person zunächst überwacht, danach hätten die Strafverfolgungsbehörden übernommen und in mehreren Kantonen Hausdurchsuchungen durchgeführt.

Gegen eine Kontaktperson des Agenten werde ermittelt wegen des Verdachts der Widerhandlung gegen das Kriegsmaterialgesetz sowie gegen das Embargogesetz, heisst es im Bericht der TA-Media-Zeitungen. Gegen einen zweiten Beschuldigten laufe eine Untersuchung wegen des Verdachts der Widerhandlung gegen das Güterkontrollgesetz und gegen das Embargogesetz.

Der Agent soll einen Deutschschweizer Waffenhändler in seinem Ladenlokal aufgesucht haben, ohne jedoch etwas zu kaufen. Der Waffenhändler sei von der Polizei befragt worden.

Ein Zusammenhang mit der Bürgenstock-Konferenz?

Der Bericht wirft diverse Fragen auf. Unklar ist, ob es einen Zusammenhang mit der Bürgenstock-Konferenz gibt. Die Veröffentlichung, nur wenige Stunden nachdem die letzten Delegationen die Innerschweiz verlassen haben, erweckt zwar den Eindruck eines Konnexes. Gegen diese Lesart sprechen aber zwei gewichtige Punkte.

Zum einen war der Bürgenstock am vergangenen Wochenende neben dem G-7-Gipfel in Apulien wohl der am besten gesicherte Konferenzort weltweit. Die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet in dem bis auf den letzten Quadratmeter überwachten Resort ein Anschlag geplant war, dürfte deshalb verschwindend gering sei.

Zum anderen soll sich der Fall mehrere Wochen vor der Konferenz zugetragen haben. Das spricht dafür, dass die Ermittlungen des NDB und der involvierten Behörden schon mehrere Wochen oder gar Monate im Gang waren. Bundespräsidentin Viola Amherd hatte die Konferenz beim Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski auf dem Landgut Lohn im Januar angekündigt. Es ist gut möglich, dass die Ermittlungen damals schon im Gang waren. Der NDB äussert sich naturgemäss nicht zu solchen Fragen.

Dass es sich «punkto Schadenspotenzial» um einen der schwersten Geheimdienstfälle der Schweiz handelt, wie es im Bericht heisst, ist weder beweis- noch widerlegbar, zumal das Schadenspotenzial nur ein Schätzwert ist. Abwegig ist es indes nicht. Die Schweiz ist seit Jahren eine Drehscheibe für russische Agenten. Wegen ihrer geografischen Lage mitten in Europa und ihrer Rolle als Gaststaat internationaler Organisationen ist sie für Geheimdienste besonders attraktiv. Zusätzlich akzentuiert habe sich die Situation mit der Mitgliedschaft der Schweiz im Uno-Sicherheitsrat in den Jahren 2023 und 2024, heisst es im letztjährigen Lagebericht des NDB.

Gerade die Aktivitäten der russischen Geheimdienste haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Laut NDB ist jeder fünfte russische Nachrichtenoffizier in Europa in der Schweiz stationiert. Inzwischen soll es in keinem anderen Land in Europa mehr russische Agenten geben. Nach Angaben des Bundes sind die Zahlen indes seit Jahren konstant. 221 Personen sind gemäss dem Aussendepartement (EDA) bei den russischen Vertretungen diplomatisch akkreditiert. Mindestens ein Drittel, also 70 bis 80 Personen, sind für russische Nachrichtendienste tätig, wie der NDB festhält.

Dass es dabei nicht nur um Spionage geht, sondern tatsächlich auch Anschläge vorbereitet werden, zeigte sich 2018. Damals wurde bekannt, dass zwei russische Spione in den Niederlanden festgenommen worden waren. Diese hatten es auf das Hochsicherheitslabor des Bundes in Spiez abgesehen. Das Labor untersuchte damals die Spuren nach dem Giftanschlag auf den russisch-britischen Doppelagenten Sergei Skripal im britischen Salisbury. Das Labor Spiez wurde im Zusammenhang mit den Skripal-Untersuchungen Ziel von Cyberattacken.

Zurückhaltende Ausweisungspraxis

Im aktuellen Fall soll sich der mutmassliche Agent bereits wieder ausser Landes befinden. Von der Polizei oder der Bundesanwaltschaft hätte er ohnehin wenig zu befürchten; als Diplomat ist er vor Strafverfolgung geschützt. Auch sei er nicht zur Persona non grata erklärt worden.

Der zurückhaltende Umgang des Bundes mit mutmasslichen Agenten ist seit Jahren ein politisches Thema. Ende Mai stimmte der Ständerat einer Motion zu, die eine Verschärfung der Praxis fordert. Der Bundesrat muss damit künftig sämtliche Personen, welche durch verbotene nachrichtendienstliche Tätigkeit die Sicherheit der Schweiz gefährden und nicht strafrechtlich verfolgt werden können, konsequent ausweisen. Der Nationalrat hatte der Motion bereits im Dezember 2023 zugestimmt.

Laut dem NDB können die russischen Nachrichtendienste den Krieg nutzen, um Agenten als Flüchtlinge nach Europa zu schleusen. «Die grosse Zahl an Flüchtlingen sorgt wahrscheinlich dafür, dass einige Nachrichtendienstangehörige unerkannt reisen können und vorübergehend aufgenommen werden.» Als Flüchtlinge hätten sie zwar nicht dieselben Zugänge wie Diplomaten und seien damit zumindest in den ersten Jahren nicht voll einsetzbar.

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