Georg Schäppi hat zwei Jahre, um das Kinderspital aus der Krise zu führen. Jetzt erklärt er erstmals, wie er das schaffen will.
Am 4. April 2024 wurde der Öffentlichkeit schlagartig klar, dass das Zürcher Kinderspital in einer tiefen Krise steckt. An diesem Tag gab der Zürcher Regierungsrat bekannt, dass der Kanton das Spital mit einer Finanzspritze retten muss.
Das Kinderspital erhält ein Darlehen über 100 Millionen Franken für seinen teuren Neubau und einen Beitrag von 35 Millionen Franken, um das Betriebsdefizit zu decken. Im kommenden Jahr könnten nochmals 25 Millionen dazukommen. Danach ist aber Schluss. Ab 2026 muss das Spital wieder schwarze Zahlen schreiben. Der Druck ist gross, denn das Spital befindet sich mitten im Umbruch. Noch in diesem Herbst wird es den Neubau beziehen.
Die NZZ hat mit dem Kinderspital-CEO Georg Schäppi darüber gesprochen, wie er die Turbulenzen erlebt hat und wie er den Betrieb aus der Krise führen will.
Herr Schäppi, hinter Ihnen liegen Monate der Ungewissheit. Wie war es für Sie, als Sie erfahren haben, dass der Kanton bereit ist, das Kinderspital zu retten?
Ich muss vorweg sagen: Wir waren nie glücklich darüber, dass wir den Kanton überhaupt um Unterstützung bitten mussten. Leider war das aber unvermeidlich. Als der Kanton uns dann seine Hilfe zugesagt hat, waren wir extrem dankbar und erleichtert.
Ohne Geld vom Kanton hätte dem Kinderspital schon diesen Sommer die Insolvenz gedroht. Wären von einem Tag auf den anderen die Lichter gelöscht worden?
Nein, selbstverständlich nicht. Wenn ich als CEO derart versagt hätte, müsste ich sofort das Büro räumen. Wir hatten im Sinne einer Übergangslösung eine Kreditlinie organisiert. Diese hätte uns geholfen, die nächsten Monate zu überstehen, um eine andere Lösung zu finden. Aber nachhaltig wäre das nicht gewesen, denn jeder zusätzliche Kredit hätte unsere Zinslast gesteigert.
Als die Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli über die Unterstützung informierte, wusste noch kaum jemand, wie ernst die Lage am Kinderspital ist. Auch Ihre eigenen Mitarbeitenden und Ihre Gönner nicht. Was haben Sie in diesen Stunden des 4. Aprils gemacht?
Das war für uns nicht einfach, der Kanton hatte die Informationshoheit. Ich wäre gerne selbst hingestanden, hätte die Sachlage dargestellt und der Gesundheitsdirektion gedankt. Und ich hätte auch gerne aufgezeigt, wie wir es schaffen werden, ab 2026 wieder ganz auf eigenen Beinen zu stehen. Intern ist es uns gelungen, das gut zu kommunizieren.
Wie hat das Personal reagiert?
Unser Personal geht ruhig mit der Situation um. Wir haben grundsätzlich eine gute Kommunikationskultur am Spital. Das Personal vertraut darauf, dass ich hinstehe und auch über schwierige Dinge transparent spreche. Das habe ich in einem Livestream getan. Da habe ich auch erklärt, dass im Sommer sicher nicht die Lichter gelöscht worden wären.
Abgänge haben Sie wegen der Situation keine?
Nicht dass ich wüsste. Unsere Personalfluktuation nimmt in der Tendenz eher ab. Ich habe viele positive Reaktionen erhalten für unsere Transparenz.
Und wie haben die Spenderinnen und Spender reagiert? Fragen die sich nicht, was nun mit ihren Geldern passiert?
Das ist tatsächlich eine anspruchsvolle Situation. Es handelt sich um eine sehr heterogene Gruppe: Das geht von Institutionen über wohlhabende Grossspender bis hin zu Personen, die uns kleine Beträge überweisen – die für uns aber auch enorm wichtig sind. Wir haben viele Zuschriften erhalten, und es gab auch Reaktionen auf Social Media.
Wie sahen diese Reaktionen aus?
Sie waren unterschiedlich. Was wir zum Beispiel immer wieder hörten, war: «Ihr habt jetzt ja genug Geld, seit der Kanton eingesprungen ist. Unsere Spende braucht ihr also wohl nicht mehr.»
Und was ist Ihre Antwort darauf?
Dass wir weiterhin auf Spenden angewiesen sind – sogar mehr denn je. Denn die 100 Millionen Franken Darlehen des Kantons wollen wir möglichst nicht vollständig brauchen. Da wir das Geld verzinsen und zurückzahlen müssen, erhöht es längerfristig den Druck auf uns. Für den Neubau haben wir bis jetzt rund 100 Millionen Franken an Spenden gesammelt. Wenn es uns gelingt, diesen Betrag auf 150 Millionen zu erhöhen, dann brauchen wir nur die Hälfte des Darlehens. Das leuchtet vielen Spenderinnen und Spendern ein. Aber insgesamt ist es für uns sicher nicht einfacher geworden, Spenden zu akquirieren.
Es wurde viel über den teuren Neubau gesprochen. Sie haben aber auch ein Problem mit den Betriebskosten. Warum hat das Kinderspital im letzten Jahr gut 29 Millionen Franken Defizit gemacht?
Wir haben ähnliche Probleme wie viele Spitäler in der Schweiz. Zum Beispiel den Fachkräftemangel. Zudem leiden wir auch unter der Teuerung. Wir mussten deshalb die Löhne anheben. Die Krankenkassen zahlen diese Kosten, wenn überhaupt, erst mit zwei Jahren Verzögerung, weil die stationären Tarife anhand des vorletzten Jahres berechnet werden. Mit anderen Worten: Wir gehen zwei Jahre in Vorleistung – und da geht es um Abermillionen Franken. Zudem stagnieren die meisten Tarife für ambulante Behandlungen seit vielen Jahren. Dazu kommen Zusatzbelastungen, die nur uns betreffen.
Zum Beispiel?
Wir sind im Moment damit beschäftigt, das neue Kinderspital zu erfinden. Denn wir wollen den Neubau optimal betreiben. Diese Arbeit macht keine externe Beratungsfirma mit gloriosem Namen, sondern unser Personal. Unsere Leute sind deshalb zum Teil nun doppelt belastet. Wir fangen bereits damit an, gewisse Dinge am neuen Standort einzurichten. Dadurch haben wir Zusatzkosten und eine verminderte Produktivität. Die Kombination der allgemeinen Schwierigkeiten und unserer Zusatzbelastung hat das hohe Defizit verursacht.
Sie hatten aber auch weniger Einnahmen, sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich. Woran lag das?
Wir konnten wegen des Personalmangels nicht alle Betten betreiben, das letzte Jahr war besonders schwierig. Wir haben ja nie zu wenig Patienten, wir müssen im Gegenteil immer schauen, wie wir die vielen Patienten überhaupt bei uns behandeln können. Und wir mussten gewisse Leistungen herunterfahren wegen der erwähnten Doppelbelastung.
Im Herbst werden Sie den Neubau beziehen. Wie zügelt man ein ganzes Spital?
Wir haben schon 2020 mit der Planung begonnen, das ist eine Generalstabsübung. Wir haben im letzten Jahr damit angefangen, IT, Technik und Sicherheit am neuen Standort hochzufahren. Wir haben zudem all unsere Abläufe neu definiert und auf den Neubau abgestimmt. Im Sommer werden die einzelnen Teams damit beginnen, diese Abläufe am neuen Standort zu üben. Gleichzeitig müssen wir am alten Standort den Betrieb voll aufrechterhalten.
Und irgendwann kommt dann der Tag X.
Wir werden zwei Wochen vor dem entscheidenden Tag damit beginnen, die komplexen, aber nicht dringlichen Eingriffe zu stoppen. Damit wir möglichst wenig Patienten in einem heiklen Zustand haben, die wir verlegen müssen. Und dann kommt der 2. November. Das ist der alles entscheidende Tag, an dem wir mit rund 100 Patienten in die Lengg ziehen. Wir werden alles brauchen, was vier Räder oder zwei Beine hat. Zum Glück ist unser Personal sehr motiviert, dabei zu sein. Zum Teil braucht es zehn bis zwölf Fachpersonen, die ein einziges Kind betreuen. Es darf nichts, aber auch gar nichts schiefgehen.
Und was machen Sie mit Notfällen am 2. November?
Ab Punkt 8 Uhr müssen Eltern mit ihren Kindern zum neuen Notfall in der Lengg fahren. Aber wir lassen natürlich niemanden im Regen stehen, wenn er zum alten Standort kommt.
Für Sie als CEO kommt danach die entscheidende Phase. Sie müssen sehr schnell das Ruder herumreissen, damit das Spital nicht in wenigen Jahren wieder Geld vom Kanton braucht. Wie wollen Sie das schaffen?
Das ist die zentrale Frage und unser wichtigstes Ziel. Wir müssen das Spital 2025 wieder in den normalen Zustand zurückführen. Einiges passiert automatisch, weil wir dann schon umgezogen sind und die Doppelbelastung wegfällt. Sobald sich die neuen Abläufe eingespielt haben, werden wir die positiven Effekte sehen. Nur schon wegen der besseren Anordnung der Räume können wir viel effizienter arbeiten und auf Belastungsspitzen reagieren. Auch die Isolationsproblematik stellt sich künftig viel weniger.
Das heisst?
Heute belegt ein Patient, der isoliert werden muss, mitunter ein ganzes Viererzimmer. Künftig haben wir nur noch Einer- und Zweierzimmer. Wir werden in allen Bereichen darauf achten, dass wir die Vorteile des Neubaus voll nutzen, um unsere Produktivität zu steigern. Und wir sehen übrigens, dass die Aussicht auf ein neues Spital Personal anzieht. Die Rekrutierung wird bereits spürbar einfacher. Und wir glauben auch, dass es eine Sogwirkung auf die Patienten haben wird.
Das Kinderspital will wachsen, das ist Ihr erklärtes Ziel. Wie soll das gehen? Es werden ja nicht plötzlich mehr Kinder krank.
Wir wollen nicht wachsen um des Wachstums willen. Es geht darum, dass wir den bestehenden Bedarf abdecken können. Heute müssen wir Kinder immer wieder in andere Spitäler verlegen, weil unsere Kapazitäten am Limit sind. Jeder solche Fall tut mir in der Seele weh: Das ist eine Zumutung für die Kinder und die Familie. Das wird es in Zukunft so nicht mehr geben.
Das klingt alles gut, aber Sie brauchen ja bald beträchtliche Summen. 2028 müssen Sie bereits eine Anleihe über 200 Millionen Franken refinanzieren. Geht der Businessplan wirklich auf?
Ja, davon sind wir überzeugt. Verschiedene Wirtschaftsprüfer sind auch zu dem Schluss gekommen, dass die Ziele zwar sportlich, aber erreichbar sind.
Das klingt nach einem Euphemismus dafür, dass es sehr schwierig wird. Hand aufs Herz, wie soll das klappen?
Es ist klar: Wir können unsere Erträge nicht unendlich steigern. Das wollen wir auch gar nicht, schliesslich sind das ja Gesundheitskosten, welche letztlich die Gesellschaft tragen muss. Unser Hebel ist die Effizienzsteigerung: Wir müssen die Gegebenheiten im Neubau nun optimal nutzen. Sprich, wir werden mit dem heutigen Personalbestand künftig mehr Patienten behandeln. Dazu werden wir hart am Wind segeln müssen. Aber nochmals, wir sind überzeugt, dass wir es schaffen.
Ein Teil Ihrer Einnahmen besteht aus Spenden. Auf diese sind Sie nicht nur für den Neubau angewiesen, sondern auch im laufenden Betrieb. Spendengelder sind aber volatil. Ist das nicht ein Problem?
Ja, das ist ein Problem. Aber es ist ein systemisches. Denn die Tarife in der Kindermedizin decken die Kosten noch schlechter als jene in der Erwachsenenmedizin. Es geht leider jedem Kinderspital so, dass es auf Fundraising oder andere Zusatzmittel angewiesen ist.
Ihr Stiftungsratspräsident Martin Vollenwyder hat viele Spenden an Land gezogen. Er ist aber bereits 70 Jahre alt und wird irgendwann zurücktreten. Das ist ein grosses Risiko für Sie.
Martin Vollenwyder hat unbeschreiblich viel für das Kinderspital geleistet und wahnwitzig viel bewirkt für den Neubau. Er war und ist aber vor allem für die Spenden für den Neubau entscheidend. Die Spenden, die wir für den operativen Bereich brauchen, generiert im Wesentlichen unsere Fundraising-Abteilung.
Eigentlich könnten Sie sich ja zurücklehnen. Der Kanton hat deutlich gesagt, dass das Kinderspital unersetzlich ist. Sie haben also eine Staatsgarantie und könnten im Notfall jederzeit wieder Geld beantragen.
Das ist absolut nicht meine Haltung und übrigens auch nicht die Haltung von Natalie Rickli. Sie hat uns ziemlich unverblümt gesagt, es komme nicht infrage, dass wir nun alle zwei Jahre wieder beim Kanton anklopfen. Und sie hat recht damit. Wenn wir es jetzt nicht aus eigener Kraft schaffen, dann haben wir versagt. Die letzten Wochen waren nicht lustig für uns – und wir wurden zu Recht auch hart kritisiert. Ich glaube nicht, dass die Politik bereit wäre, uns immer wieder zu retten. Einzelne brachten schon jetzt die Idee auf, das Kinderspital zu kantonalisieren. Aber das wäre ein Fehler.
Warum?
Ein kantonales Spital könnte kaum mehr Spendengelder generieren, und der Kanton müsste entsprechend mehr Mittel einschiessen. Auch eine Fusion mit dem Universitätsspital für Erwachsene hätte für die Kindermedizin Nachteile. Verstehen Sie mich nicht falsch, wir haben eine hervorragende Beziehung zum Unispital und schätzen unsere enge Zusammenarbeit sehr. Aber ein solches fusioniertes Grossspital würde in erster Linie Erwachsenenmedizin machen und nebenbei Kindermedizin. Gerade weil wir eigenständig sind, können wir seit über 150 Jahren den Fokus voll auf schwerkranke und verletzte Kinder legen, für sie unsere Forschung vorantreiben und ihnen die bestmögliche medizinische Versorgung bieten. Und dafür will ich kämpfen.