Freitag, Oktober 18

Matthias Hartwich kam wegen seiner Frau in die Schweiz. Nun kämpft er als Präsident der Bahngewerkschaft gegen die Öffnung des internationalen Personenverkehrs.

Matthias Hartwich hätte einen Zug der SBB bevorzugt. Der Eurocity, der in Zürich HB zur Fahrt nach Mailand bereitsteht, wird von Trenitalia geführt. Die Italiener dürfen heute nur in Kooperation mit den SBB in die Schweiz fahren. Hartwich, der Präsident der Schweizer Bahngewerkschaft (SEV), will, dass das so bleibt. Er kämpft gegen die Öffnung des internationalen Bahnverkehrs, die der Bundesrat im Rahmen des bilateralen Pakets mit der EU plant. «Wir wollen das Schweizer System schützen.»

Hartwich tritt unter Gewerkschaftern besonders laut auf – so laut, dass sich SVP-Politiker schon bedankten. Es komme nicht infrage, den funktionierenden Schweizer öV für eine Einigung mit der EU zu zerstören, mahnt er. Dank diesem könne sein 88-jähriger Schwiegervater aus dem Raum Luzern alleine seine Tochter bei Bern besuchen, sagte er an einer Medienkonferenz des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB). Hartwich sprach so viel, dass selbst die Alphatiere des SGB ungeduldig wurden. Wer ist der Mann, der vor deutschen Verhältnissen und dem Ende des Schweizer ÖV-Systems warnt?

Pünktlich um 9.33 Uhr fährt der EC ab. Hartwich erblickt einen Zug der Deutschen Bahn (DB), der aus Oberndorf am Neckar angekommen ist – die Strecke von Stuttgart ist wegen Bauarbeiten wieder einmal unterbrochen. Der Gewerkschafter stammt aus Bremen und ist für seine Frau in die Schweiz gekommen. Er lebt seit längerem in Bolligen bei Bern, ist Doppelbürger und Mitglied der SP statt der SPD. Kulturell sei er Deutscher geblieben, sagt er.

Deutschlands marode Bahn spielt in Hartwichs Argumentation eine zentrale Rolle. Für den Niedergang seien die Liberalisierung und der versuchte Börsengang verantwortlich, sagt er. «Die DB ist dreissig Jahre bis an die Substanz gefahren, um Gewinne zu machen. Jetzt fliegt alles auseinander.» Die Bahnpolitik der EU habe dazu beigetragen. All die Liberalisierungsschritte hätten dazu geführt, dass Transporte auf die Strasse abgewandert seien, während die Schweiz mit Abstand an der Spitze stehe.

Die Furcht vor Flixtrain

Um 10.16 Uhr trifft der EC in Arth-Goldau ein. Die Zeit bis zur nächsten Abfahrt reicht für einen Kaffee, mit Blick auf die Rigi. Hartwich schwärmt von Mark Twains Werk über die Besteigung des Berges, das zu seinen Lieblingsbüchern zählt.

Ein Güterzug von DB Cargo fährt ein. Der Güterverkehr ist seit längerem liberalisiert, im alpenquerenden Verkehr mit Erfolg. Mit dem Landverkehrsabkommen hat sich Bern grundsätzlich dazu verpflichtet, den internationalen Verkehr analog zur EU zu öffnen, auch für Personen. Bahnen aus dem Ausland könnten neu in Eigenregie Züge in die Schweiz führen.

Nicht alle Berufsverbände sehen die Öffnung gleich kritisch. «Die Liberalisierung des Güterverkehrs war nicht ansatzweise so einschneidend, wie man es erwarten konnte», sagt Hubert Giger, der Präsident des Verbands Schweizer Lokomotivführer und Anwärter (VSLF). «Wir sehen in der Öffnung des internationalen Personenverkehrs gegenwärtig keine allzu grossen negativen Faktoren.» Solange der Taktfahrplan nicht beeinträchtigt werde, dürften zusätzliche internationale Personenzüge nur eine Randrolle spielen. Die Schweiz hat mit der EU in einem gemeinsamen Dokument Absicherungen vereinbart, vom Vorrang des Taktfahrplans bis zum Tarifsystem. Der VSLF schlägt zusätzlich vor, die Öffnung mit einer Anpassung des Arbeitszeitgesetzes abzufedern.

Hartwich bezeichnet die Öffnung dagegen als Dammbruch. «Das ist, wie wenn man sagen würde: Lassen wir doch ein paar englische Autofahrer auf der linken Seite fahren», echauffiert er sich. Die Absicherungen seien kein schlechter Anfang. Doch das Bundesamt für Verkehr (BAV) schätze die Situation zu optimistisch ein. Die EU lese das Dokument anders. «Wie wollen Sie dem Europäischen Gerichtshof erklären, es sei diskriminierungsfrei, wenn Flixtrain nur in der Nacht in die Schweiz fahren darf?» Hartwich hat wenig Vertrauen in die BAV-Spitze. Dessen Direktor betätige sich als Sprecher von Flixtrain.

Öffentlicher Verkehr statt Rüstungsindustrie

Pünktlich um 10.54 Uhr verlässt der Regionalzug nach Biberbrugg den Bahnhof Arth-Goldau. Nur wenige Passagiere sind unterwegs. In Steinerberg erfolgt eine Kreuzung. Die Südostbahn (SOB) hat die Station aufwendig behindertengerecht umgebaut. Die Schweiz investiert viel Geld in die Infrastruktur und den Betrieb des Regionalverkehrs, auch in Randregionen. Daran wird sich bei einer Einigung mit der EU nichts ändern.

Hartwich rechnet jedoch damit, dass Geld aus dem System abfliesst. Ein privater Anbieter wie Flixtrain dürfte auf der Strecke München–Zürich auch innerhalb der Schweiz Passagiere befördern. Wenn die SBB Marktanteile verlieren würden, fehlten Mittel für die Subventionierung. Hartwich befürchtet zudem, dass es mit der EU ständig zu Konflikten um Zugtrassen komme. Auch die geplanten Regeln für staatliche Beihilfen machen ihm Sorgen. Er denkt an den nationalen Wagenladungsverkehr der SBB, den der Bundesrat subventionieren will.

Im Zug macht die SOB eine Kontrolle. Hartwichs Stimmung verbessert sich, als eine Bahnangestellte erscheint. Er vertritt die ÖV-Mitarbeitenden mit Herzblut. «Leute, ihr könnt stolz sein», sagt er zu ihr. In einer früheren Funktion habe er die Interessen von ThyssenKrupp vertreten müssen – als Militärdienstverweigerer. «Ich setze mich lieber für Menschen ein, die eine nachhaltige Mobilität produzieren, als für die Rüstungsindustrie.»

Hartwich stiess im letzten Jahr zum SEV, der den Öffnungsschritt stets ablehnte. Doch mit ihm verschärfte sich der Ton. Vertraute sagen, er sei wie ein Terrier, der nicht mehr loslasse, wenn er sich festgebissen habe. Hartwich führt sein Auftreten auf bittere Erfahrungen zurück, die er als junger Gewerkschaftsführer gemacht hat. Im Jahr 2002 habe der deutsche Bau- und Industrieverband erklärt, dass er den Tarifvertrag mit der IG Bau bundesweit abschaffe. «Das war ein schockierendes Erlebnis.» Die Gewerkschaft habe aus Notwehr erstmals mit einem Streik reagiert. Hartwich hat daraus eine Lehre gezogen. «Wir müssen immer bereit sein, auch wenn wir nicht den Konflikt suchen.»

Überzeugter Europäer

Um 11.20 Uhr kommt der Zug im Umsteigebahnhof Biberbrugg an, einem Verkehrsknotenpunkt in Schwyz. Der EU-skeptische Kanton ist der einzige, der sich gegen neue Verhandlungen ausgesprochen hat. Hartwich ist sich bewusst, dass er aus der «falschen Ecke» Applaus erhält. Er bezeichnet sich als überzeugten Europäer. Sein Grossvater habe in zwei Weltkriegen gekämpft. «Die Vorstellung, dass sich Franzosen oder Deutsche fahnenschwingend umbringen, ist zum Glück vor allem dank der EU absurd.» Diese habe in den letzten 25 Jahren aber Entscheide für Liberalisierungen gefällt, die nicht gut gewesen seien. «Das hat die Menschen von ihr entfremdet.»

Der Anschluss in Wädenswil klappt. Die S-Bahn nach Zürich fährt pünktlich um 12 Uhr ab. Er habe zwar ein Auto, sagt Hartwich, der in der Freizeit auch Töff fährt. Aber in der Schweiz könne man im Gegensatz zu Deutschland gut ohne Auto leben. Bahnfahren im Nachbarland braucht nicht nur wegen der maroden Infrastruktur Geduld: Die Zuverlässigkeit der Schiene leidet unter den Streiks der Gewerkschaften. In der Schweiz gilt eine Friedenspflicht, die die Sozialpartner mit dem Gesamtarbeitsvertrag vereinbaren.

Hartwich sieht den letzten Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) kritisch. «Am Ende leiden die Kunden und die Beschäftigten darunter.» Der SEV-Präsident wurde gefragt, ob er sich mit dem Streik der GDL solidarisch erklären wolle. Er lehnte ab. Es habe eine gute Lösung mit der DB gegeben, doch es sei um die Profilierung gegangen. Die Gewerkschaften konkurrierten in Deutschland stärker um Einfluss und Mitglieder als in der Schweiz.

Um 12.17 Uhr fährt der Zug in Zürich HB ein. Hartwich muss zum Restaurant Zeughaushof, wo er an einem Treffen einer Regionalsektion teilnimmt. Er kommt rechtzeitig zum Termin, dank den SBB und der SOB.

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