Deutschland trifft im WM-Viertelfinal auf Portugal. Vom Ausgang dieser Partie hängt ab, ob die Zweifel am Bundestrainer endgültig ausgeräumt sind – oder wieder aufflammen.
Alfred Gislason hat im Handball fast alles gewonnen. Mit dem THW Kiel und Magdeburg war er sieben Mal deutscher Meister, sechs Mal Cup-Sieger; dazu gewann er drei Mal die Champions League. Gislason, 65 Jahre alt, steht seit über drei Jahrzehnten an der Seitenlinie. In seiner Wahlheimat Deutschland ist der Isländer längst eine Trainerlegende. Trotzdem zweifelt Handball-Deutschland immer wieder an ihm.
Seit fünf Jahren ist Gislason deutscher Nationalcoach. In der Szene gilt er als harter Hund, der Mannschaften kompromisslos führt. Von 2008 bis 2019 trainierte er den THW Kiel, schuf mit dem Verein aus Norddeutschland den Nimbus von der besten Klubmannschaft der Welt. Doch aus Kiel sind auch berüchtigte Team-Besprechungen nach Niederlagen überliefert. Die Spieler nannten diese Abreibungen «Beleidigungsstunden». Der Erfolg gab Gislason damals recht – anders als in den vergangenen Jahren als Nationalcoach.
Am Mittwochabend, um 20 Uhr 30, trifft Gislasons Mannschaft im WM-Viertelfinal in Oslo auf Portugal. Vom Ausgang dieser Partie wird abhängen, ob die Zweifel an Gislason als Bundestrainer endgültig ausgeräumt sind oder wieder aufflammen.
Gislason verpasst die Medaille im dümmsten Moment
Deutschland sieht sich im Handball als Grossmacht. Der Bundestrainer hat die Aufgabe, die Nationalmannschaft in der Weltspitze zu halten: Mit weniger als Medaillen oder sogar Titeln gibt sich der Deutsche Handballbund (DHB) nicht zufrieden. Grund für Zufriedenheit gibt es längst nicht mehr. 2007 war Deutschland Weltmeister, seither gab es an WM keine Medaillen mehr. 2016 wurde Deutschland Europameister, verpasste danach aber an vier EM einen Podestplatz.
Der DHB ist mit 765 000 Mitgliedern der grösste Handballverband der Welt und verfügt über einen riesigen Pool an potenziellen Spitzenspielern. Doch es hapert bei der Nachwuchsförderung und der Integration von Talenten in die Nationalmannschaft. Im vergangenen Jahr richtete Deutschland die EM aus, der Anlass war begleitet von grossen Erwartungen in der Öffentlichkeit. Gislason musste die Mannschaft stark verjüngen, nachdem viele arrivierte Spieler zurückgetreten waren. Trotzdem führte er sein Team bis in den Halbfinal, scheiterte dort und verpasste eine Medaille im dümmsten Moment: Seine Vertragsverlängerung stand an.
Gislason zog zwar eine positive Turnierbilanz, betonte, er trainiere ein junges Team, das noch Fehler begehen dürfe. Er liess durchblicken, dass er gerne weitermachen würde. Doch im DHB kristallisierten sich in dieser Causa zwei Lager heraus.
Zwei Lager im Verband streiten um Gislasons Zukunft
Bob Hanning, der Geschäftsführer des Bundesligaklubs Füchse Berlin und ehemaliger DHB-Vizepräsident, führte die Fraktion der Kritiker an. Hanning ist im deutschen Handball der grosse Zampano, hat zu allen Vorgängen eine Meinung und äussert diese offensiv. Hanning fand, ein jüngerer Trainer wäre die bessere Lösung – und brachte Coachs aus seinem Umfeld ins Spiel. Zwischen den Zeilen klang heraus: Gislason ist ein Dinosaurier, der das Rentenalter erreicht hat.
Gislason bleibt bei solchen Vorgängen normalerweise stoisch. Doch dieses Mal reagierte er gereizt und sagte zu deutschen Medien: «Für mich ist Hanning keine Koryphäe im Welthandball. Ich würde eher zuhören, wenn sich die Spitzentrainer in der Bundesliga zu unserer Leistung äussern würden.»
Weggefährten aus Kiel beschreiben Gislasons Auftreten als zackig und bisweilen schroff, zudem habe er einen trockenen Humor. Unter der harten Schale verberge sich aber ein weicher Kern. Die Kritiker zweifelten trotzdem an Gislasons Art und daran, ob seine deutlichen Ansprachen zu einer jüngeren und selbstbewussteren Spielergeneration passen.
Einen Fürsprecher hatte Gislason in Uwe Schwenker, dem DHB-Vizepräsidenten und Chef der Handball-Bundesliga. Schwenker betonte unermüdlich, er halte Gislason für den richtigen Mann. Die beiden arbeiteten in Kiel erfolgreich zusammen; Gislason war sogar Schwenkers Trauzeuge. Der DHB und Gislason einigten sich schliesslich auf einen Kompromiss.
Der Verband stattete Gislason mit einem neuen Vertrag bis 2027 aus – mit dem Vorbehalt, dass die Olympiaqualifikation für Paris gelingen müsse. Angesichts von Gislasons Palmarès grenzte diese Bedingung an Majestätsbeleidigung. Der Nationaltrainer nahm das hin und reüssierte in der Qualifikation, vor allem aber an den Olympischen Spielen.
Gislason schützt junge Spieler vor zu hohen Erwartungen
In Paris spielte Deutschland stark, schaltete im Halbfinal den Gastgeber Frankreich aus und scheiterte erst im Final an den übermächtigen Dänen, die zuletzt drei Mal Weltmeister geworden sind. Plötzlich stand Gislason wieder in der Gunst der Öffentlichkeit; die Kritiker verstummten.
Auffallend ist, dass sich die Spieler der Nationalmannschaft immer auf die Seite von Gislason gestellt haben. Das hängt damit zusammen, dass der Trainer ruhiger geworden ist. Zwar macht er immer noch klare Ansagen, in Time-outs zum Beispiel, die er jeweils mit einem kehlig klingenden «Ey, Jungs» einleitet, bevor er Anweisungen gibt.
Doch Gislason nimmt auch Druck von den Schultern junger Schlüsselspieler wie etwa des 24-jährigen Juri Knorr oder des 22-jährigen Renars Uscins. Von diesem Duo verlangt die Öffentlichkeit, dass es die Nationalmannschaft bald zu einer WM- oder EM-Medaille führt. Gislason hingegen nimmt Knorr und Uscins nach passablen Leistungen in Schutz und dämpft die Erwartungen.
Gislason verfolgt einen mehrjährigen Plan mit dem Team. Die Entwicklung soll im Januar 2027 abgeschlossen sein: An der Heim-WM will Deutschland Weltmeister werden, 20 Jahre nach dem letzten Titel. Für Gislason wäre es die Vollendung seines Lebenswerks.