Montag, November 25

Seit Jahrhunderten leben in Casablanca Juden und Muslime Tür an Tür. Seit dem Überfall der Hamas auf Israel aber sind die 1500 Mitglieder der letzten jüdischen Gemeinde Marokkos fast unsichtbar geworden.

Wer das älteste jüdische Museum in der ganzen arabischen Welt nicht sucht, der findet es auch nicht. Auf dem Marmorschild neben der Tür steht nur «Museum». Einzig ein unscheinbarer Davidstern weist darauf hin, dass sich in dem flachen weissen Gebäude Relikte aus mehreren tausend Jahren jüdisch-marokkanischer Geschichte verbergen.

In Marokko lebte einst eine Viertelmillion Jüdinnen und Juden. Seit der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 sind die meisten von ihnen emigriert, geflüchtet vor Armut, Ausgrenzung, Pogromen. Heute zählt die jüdische Gemeinde Casablancas, die grösste der arabischen Welt, bloss noch 1500 Mitglieder. Zur Gemeinde gehören über zwanzig Synagogen, einige koschere Restaurants, Cafés, Bäckereien und Metzgereien, drei jüdische Schulen und mehrere Gemeindezentren. Die Juden Casablancas leben verteilt in der ganzen Stadt, ehemals jüdische Viertel verschmelzen mit arabischen.

Besonders viel über das marokkanische Judentum weiss Zhor Rehihil, die Kuratorin des jüdischen Museums. Sie trägt eine Halskette mit einem muslimisch-marokkanischen Symbol, das vor Geistern schützen soll. Vor ihr auf dem Schreibtisch liegen Untersetzer mit dem Schriftzug «Shabbat Shalom». Reagieren Gäste überrascht darauf, dass eine Muslimin das jüdische Museum leitet, pflegt sie zu sagen: «Das ist kein Widerspruch, das ist absolut natürlich.» Juden und Muslime hätten den Alltag in Marokko schon immer gemeinsam bewältigt.

Rehihil führt durch den Veranstaltungsraum des Museums. «Hier feiern wir jedes Jahr Feste, an denen Juden und Muslime gemeinsam teilnehmen.» An den Wänden hängen Fotos von Synagogen aus ganz Afrika. Von Intoleranz möchte die Kuratorin nichts hören, fällt nur schon das Wort, runzelt sie die Stirn. «Wie soll es Intoleranz geben, wenn wir alle eins sind? Es gibt keine zwei Gruppen hier. Wir sind schliesslich alle Marokkaner.»

Diversität mit Kalkül

Dynamisch, offen, tolerant: Zhor Rehihil ist alles, was das offizielle Marokko nach aussen hin darstellen will. Die jüngste Renovation des Museums ist Teil eines staatlichen Efforts, der das jüdische Erbe des Landes sichtbar machen soll. Dutzende Synagogen im ganzen Land wurden wiedereröffnet, etliche jüdische Friedhöfe restauriert. Das Judentum ist neben dem Islam die einzig staatlich anerkannte Religion in Marokko. Und seit 2011 wird in der marokkanischen Verfassung das jüdische Erbe des Landes als Teil der nationalen Identität anerkannt.

Doch hinter diesen Schritten steht politisches Kalkül. Das Königreich will diverser und moderner auftreten, um Touristen und progressive westliche Investoren anzuziehen. Indem das Königshaus die jüdische Gemeinschaft unterstützt, gelingt das risikofrei: Es leben so wenige Juden in Marokko, dass sie König Mohammed VI. politisch nicht gefährlich werden können.

Ausserdem gehört die Unterstützung jüdischer Gemeinden zu Marokkos Bemühungen um internationale Unterstützung im Westsahara-Konflikt. Des Königs grösster Coup: Während Donald Trumps Präsidentschaft anerkannten die USA den marokkanischen Anspruch auf die Westsahara, im vergangenen Sommer tat Israel es ihnen gleich. Im Gegenzug willigte Mohammed VI. ein, offizielle diplomatische Beziehungen zum jüdischen Staat aufzunehmen. Daran hält der König fest, trotz dem Krieg in Gaza – und entgegen den Forderungen Tausender Demonstranten im Land.

Verstecken hinter schmucklosen Türen

Abseits des Königshauses ist die Stimmung in Marokko aber zunehmend angespannt. An Demonstrationen verbrennt die Menge mitunter Israel-Flaggen und skandiert antisemitische Parolen. Seit dem 7. Oktober werden die Kinder in den jüdischen Schulen von Casablanca nach dem Unterricht unter Polizeischutz abgeholt. Das jüdische Altersheim ist nicht mehr nur von Mauern umgeben, vor den Toren stehen nun auch Absperrungen aus Metall und Sicherheitspersonal. Während Muslime ihre Haustüren oft mit religiösen Symbolen schmücken, spielt sich jüdisches Leben hinter schmucklosen Türen ab.

Hinter einer dieser Türen liegt die Wohnung von Raphael Elmaleh, dem einzigen jüdischen Touristenführer Marokkos. An diesem Dezemberabend erhellen Kerzen seine Wohnung. Es ist Hanukka, das achttägige jüdische Lichterfest. Elmaleh betet, während er und sein Sohn abwechselnd die Kerzen auf der Hanukkia, einem achtarmigen Leuchter, anzünden.

Während des Gebets trägt Elmaleh seine Kippa. Das würde er in der Öffentlichkeit nie tun. «Manche Leute hier haben das Gefühl, dass die Kippa ein zionistisches Symbol sei. Sie könnten deshalb ausfällig werden», sagt Elmaleh. Um Anfeindungen zu vermeiden, tragen viele Juden in Casablanca einen Sonnenhut über der Kippa – oder lassen sie gleich ganz zu Hause.

Raphael Elmaleh hat sich für Letzteres entschieden. Er weiss schon seit seiner Kindheit, wie es ist, Ziel antisemitischer Angriffe zu werden. Er hat eine jüdische Schule besucht, wo während des Unterrichts Kippa getragen wurde. Bevor die Schüler das Gelände verliessen, setzten sie die Kippa jeweils ab. Eines Tages vergass das Elmaleh. «Da kam einer meiner muslimischen Freunde auf mich zu, schlug mir die Kippa vom Kopf, stampfte sie mit dem Fuss in den Staub und sagte: ‹Du dreckiger Jude.›»

Das war 1967, kurz nach dem Sechstagekrieg, in dem Israel siegreich gegen zahlreiche arabische Staaten kämpfte. Elmaleh hat Marokko einige Jahre nach diesem Vorfall verlassen und fast zwei Jahrzehnte lang in Grossbritannien gelebt. «Ich konnte mich einfach nicht wieder sicher fühlen in Marokko», erinnert er sich. Zurückgekehrt ist er, weil seine pflegebedürftige Mutter ihn darum bat. «Sich um die Eltern zu kümmern, ist ein Gebot. Das wog stärker», erklärt er.

Die Stimmung im Land ist heute nicht so angespannt wie damals, noch hat niemand aus der Gemeinde in Casablanca wegen des Krieges in Gaza Marokko verlassen. Elmaleh trifft sich wie schon vor dem Krieg mit seinen muslimischen Freunden und verbringt seine Zeit in arabischen Cafés. «Solange wir uns unauffällig verhalten, sind wir in Sicherheit», sagt Elmaleh. Aber die Kippa nicht zu tragen und bestimmte Stadtteile zu meiden, das gehöre eben dazu. Denn bei allem Sicherheitsgefühl sagt Elmaleh: «Man weiss halt nie, was alles passieren kann.»

Der Rabbi ohne Kippa

Die Synagoge Beth-El verbirgt sich wie das jüdische Museum hinter hohen Mauern. Man findet sie so, wie man auch manch andere jüdische Institution in Casablanca findet: indem man Kastenwagen der Polizei sucht.

Beth-El ist das Reich von Rabbi Hazout, einem schmächtigen Mann Mitte 60. Er empfängt Besucher in einem kleinen Büro, das vollgestellt ist mit Dekorationen für eine anstehende Bar-Mitzvah-Feier. Auf dem Schreibtisch des Rabbis steht ein Bildschirm, der die Aufnahmen der Überwachungskameras vor der Synagoge zeigt. Selbst wenn der Rabbi gerade ein Gespräch führt, wendet er den Blick kaum davon ab.

Dass sich Juden in Casablanca nicht sicher genug fühlten, um eine Kippa zu tragen, das möchte der Rabbi nicht als Resultat von Antisemitismus betrachten. «Wir wohnen in einem arabischen Land, und so verhalten wir uns eben. Dass wir niemanden stören, ist eine Frage des Respekts – und zu diesem Respekt gehört, dass wir in der Öffentlichkeit keine Kippa tragen.»

Im Gegenzug schütze der König die jüdische Gemeinschaft. «Vor dem Krieg standen lediglich zwei Beamte hier vor der Synagoge. Jetzt schickt die Regierung vier Beamte und einen Kastenwagen. Das schätzen wir sehr», sagt der Rabbi. Etwas gedämpft sei die Stimmung in der Gemeinde zwar trotzdem. Aber das sei auch verständlich, vor allem weil die jüdische Gemeinde in Casablanca schon einmal Ziel eines Anschlags wurde.

«Die Araber sollen keine glücklichen Juden sehen»

Das war 2003, als islamistische Selbstmordattentäter das jüdische Gemeindezentrum, ein koscheres Restaurant und einen jüdischen Friedhof angriffen. Sechzig Menschen wurden verletzt, weitere 41 starben. Juden waren keine unter ihnen, weil die meisten von ihnen wegen des Schabbats zu Hause waren. Trotzdem hat sich der 16. Mai 2003 ins Gedächtnis der Gemeinde eingebrannt.

Um erneute Anschläge zu verhindern, sorgt auch die Regierung dafür, dass jüdisches Leben in Marokko derzeit nicht allzu sichtbar wird. Mehrere Pilgerfahrten, die jährlich Hunderte von marokkanischen Jüdinnen und Juden zu Heiligengräbern im ganzen Land führen, wurden bereits abgesagt. Das jüdische Museum hat eine geplante Sonderausstellung auf unbestimmte Zeit verschoben. Und die Beth-El-Synagoge bleibt für nichtjüdische Touristen verschlossen.

Während also Kippas abgelegt und Strassensperren aufgestellt werden, wird die jüdische Gemeinde in Casablanca vor allem eines: unsichtbar. «Die Araber sollen keine glücklichen Juden sehen», fasst Raphael Elmaleh mit müdem Gesicht zusammen. Verlassen will er Marokko deswegen nicht noch einmal, weil er sich noch sicher genug fühlt. Doch eine gewisse Verbitterung ist deutlich spürbar, wenn er sagt: «Wir leben halt in einem arabischen Land, trotz allem.»

Rabbi Hazout hingegen beschwichtigt. «Solange wir der arabischen Mehrheit gegenüber Respekt zeigen, haben wir alle Freiheit, unsere Religion auszuüben, wie wir wollen.» Dann steht er auf und verlässt sein Büro. Bevor der Rabbi ins Freie tritt, zieht er seinen Hut über die Kippa.

Andrea Marti ist freischaffende Journalistin und berichtet regelmässig aus Marokko.

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