Dienstag, Oktober 1

Hinter dem Fall steckt ein Streit um die Arbeitsbedingungen in der Villa des Bankers.

Als Alina Popescu (Name geändert) in Herrliberg die unheilvolle E-Mail in ihr Mobiltelefon eintippt, hat er die Schweizer Bühne längst verlassen.

Er ist der ehemalige CEO der Credit-Suisse: Tidjane Thiam. Sie ist seine ehemalige Haushälterin.

Es ist der 2. März 2021 um 16 Uhr 41. Alina Popescu sitzt in ihrer Wohnung in einem Block in Herrliberg. Ein paar hundert Meter den Hügel hoch, bei den Villen mit Seesicht, ging sie arbeiten. Dort wohnte Tidjane Thiam in einem 10-Zimmer-Haus.

Die Nachricht, die sie an dem Nachmittag auf Englisch verfasst, geht an die ehemalige persönliche Assistentin von Thiam.

Alina Popescu ist der Ansicht, Thiam schulde ihr nach dem Ende ihres Arbeitsverhältnisses noch Geld. Weil sie ihm «nicht schaden» wolle, biete sie einen Vergleich an. Sie fordert 587 000 Franken.

Mit dieser Zahlung könnten ihre Differenzen um den Streit um angebliche «Missstände» bei den Arbeitsbedingungen beglichen werden, schreibt sie. Andernfalls werde sie die Gewerkschaften und das Internationale Olympische Komitee informieren.

Diesem gehört Thiam seit 2019 an. Seine Mitglieder sind verpflichtet, hohe ethische Verhaltensvorschriften einzuhalten.

Thiam gerät wegen einer Beschattungsaffäre in die Kritik

Die Nachricht aus Herrliberg ist für den Spitzenbanker, der die CS von 2015 bis 2020 führte, nicht die einzige negative Erinnerung an die Schweiz. 2019 gerät der CS-Chef Thiam in einen Streit mit seinem Chef der Vermögensverwaltung, Iqbal Khan.

Als Khan kündigt, um zur Rivalin UBS zu wechseln, lässt ihn Thiams Chief Operating Officer von Privatdetektiven beschatten. Auch der Personalchef wird überwacht.

Die CS-Führung will mit der Überwachung von Khan herausfinden, ob er plant, Kunden zur UBS mitzunehmen. Thiam und Khan, der in Herrliberg neben Thiam wohnt, soll eine erbitterte Rivalität verbinden.

Die Beschattung fliegt auf, Medien weltweit berichten vom «Spygate». Die Öffentlichkeit diskutiert über die persönliche Integrität des CS-Chefs. Dieser eckt auch mit seinem Führungsstil an, der oft als autoritär und selbstherrlich beschrieben wurde.

Thiam bestreitet, von der Überwachung gewusst zu haben. Im Februar 2020 tritt er dennoch zurück.

Im Frühling 2021, als seine ehemalige Haushälterin ihre Forderung per E-Mail platziert, hat Thiam seine Villa bereits zum Verkauf ausgeschrieben. Längst hat er die Schweiz verlassen. Thiam geht nicht auf die Forderung ein. Vielmehr erstattet er Strafanzeige.

Arbeitsbedingungen: «Stressig. Keine Ferien. Sehr stressig.»

Alina Popescu, blonder Zopf und leise Stimme, wirkt eingeschüchtert, als sie am Dienstag vor dem Bezirksgericht Meilen erscheint. Ist die Rumänin eine Haushälterin, die auch vor ruppigen Mitteln nicht zurückschreckt? Und was sagt die Affäre über die Arbeitsbedingungen im Hause Thiam?

Vor Gericht muss sich die Haushälterin nach über drei Jahren wegen versuchter Nötigung verantworten.

Alina Popescu hat gute Referenzen. Seit Jahren arbeitet sie für High-Net-Worth Individuals, zu Deutsch: sehr reiche Menschen. Auf Linkedin gibt sie Arbeitsorte wie London, Miami und Tel Aviv an. Vor Gericht sagt sie, sie habe auch schon in London für Thiam gearbeitet. Er habe gewollt, dass sie ihm in die Schweiz folge. Zurzeit arbeitet sie als Putzfrau.

Den Fragen der Richterin weicht sie aus. «Ich wollte nie, dass etwas öffentlich wird», sagt sie. Es sei ihr nicht ums Geld gegangen. Sie habe das Ganze einfach friedlich beenden wollen. «Ich war erschöpft und sehr belastet. Aber ich hatte nie eine böse Absicht.»

Richterin: «Aber wie waren die Arbeitsbedingungen bei Herrn Thiam?»

«Mein Anwalt hat alle Infos. Es ist sehr viel. Sie werden ein bisschen schockiert sein.»

Richterin: «Können Sie wenigstens ein paar Sätze dazu sagen, wie Sie die Arbeitsbedingungen fanden?»

«Stressig. Keine Ferien. Sehr stressig.»

Haushälterin soll bereits einen Zivilprozess gegen Thiam gewonnen haben

Als Alina Popescu die E-Mail an ihren ehemaligen Arbeitgeber schreibt, führt sie bereits einen Zivilprozess gegen ihn.

Popescu sagt, der Zivilprozess sei ihr von der Firma Jura Plus finanziert worden. Das Unternehmen wirbt damit, gegen eine Beteiligung am Erfolg das Prozesskostenrisiko des Klägers zu übernehmen. Vertreter der Firma seien mit ihr mehrere Optionen durchgegangen. Unter anderem, ob sie melden solle, dass Leute ohne korrekte Arbeitsbedingungen bei Thiam gearbeitet hätten.

Was der Öffentlichkeit bisher nicht bekannt war: Den Zivilprozess gegen Thiam hat sie damals gewonnen, wie Alina Popescus Verteidiger Stephan Reinhardt in Meilen sagt. Thiam sei dazu verpflichtet worden, seiner Mandantin eine substanzielle Summe zu bezahlen. Thiam wurde laut dem Verteidiger zur Bezahlung von mehreren «hunderttausend Franken» verpflichtet.

Das Urteil des Bezirksgerichts Meilen, das seit Dezember 2023 rechtskräftig ist, sieht laut dem Verteidiger unter anderem eine Entschädigung für nicht gewährte Ferien und Freizeit vor. Auch müsse Thiam seiner ehemaligen Haushälterin eine Genugtuung von 3000 Franken wegen «immenser Arbeitsbelastung» zahlen. Dazu komme eine Strafe wegen missbräuchlicher Kündigung.

Der Verteidiger Stephan Reinhardt schildert im Gerichtssaal die Arbeitssituation bei Thiam. Zum Eklat kam es offenbar am 9. Dezember 2018.

Die Haushälterin sei sonntags um 5 Uhr zur Villa nach Herrliberg zitiert worden. Wegen eines Sturms war der Boiler ausgestiegen. Eine Wartungsfirma habe geholt werden müssen. Popescu habe es geschafft, innert kürzester Zeit einen Handwerker aufzutreiben.

Als dieser bereits den Boiler am Reparieren gewesen sei, habe die Partnerin Thiams angefangen, die Haushälterin brutal zu beschimpfen, weil das Wasser noch immer kalt gewesen sei. «Du bist eine Lügnerin, da war kein Sturm», habe Thiams Partnerin geschrien und sei der Haushälterin durch das Haus nachgerannt.

Danach ist die Haushälterin laut ihrem Verteidiger zusammengebrochen. Gleichentags sei bei ihr in der Notaufnahme des Spitals Zollikerberg ein Nervenzusammenbruch festgestellt worden. «Das Ergebnis waren eine tiefe Depression ohne psychotische Symptome und eine posttraumatische Belastungsstörung», sagt der Verteidiger.

Als die Haushälterin Thiam gebeten habe, die vertraglichen Arbeitsbedingungen einzuhalten, sei ihr gekündigt worden. Diese Kündigung sei vom Zivilgericht als missbräuchliche «Rachekündigung» eingestuft worden.

Für den Verteidiger der Haushälterin ist klar: Die Strafanzeige von Thiam, die dazu geführt hat, dass sie nun wegen versuchter Nötigung vor Gericht erscheinen muss, sei nur dazu gedacht gewesen, seine Mandantin mundtot zu machen.

Thiam habe damit auch bewirken wollen, dass seine eigenen Gesetzesverletzungen nicht ans Tageslicht kämen. Thiam habe sich der Haushälterin gegenüber «unethisch und teilweise menschenverachtend verhalten», sagt Stephan Reinhardt.

Bis heute hat es Thiam laut dem Verteidiger unterlassen, seinen finanziellen Verpflichtungen aus dem Zivilurteil nachzukommen, und habe sich in die USA abgesetzt.

Thiam will Präsident von Côte d’Ivoire werden

Tidjane Thiam ist nicht nach Meilen gereist. Auch sein Rechtsvertreter lässt sich kurzfristig entschuldigen. Damit wird ihre Version der Geschichte nicht vor Gericht verhandelt.

Thiam weilt zurzeit in Paris. Am Montag postete er in den sozialen Netzwerken ein Foto von sich, wie er an den Olympischen Spielen die 200-Meter-Sprint-Wettkämpfe besucht. Auf dem Bild trägt er ein Trikot von Côte d’Ivoire.

Das Leibchen ist nicht zufällig gewählt. Der westafrikanische Staat ist sein Heimatland. Hier verfolgt Thiam sein nächstes grosses Ziel. Er will Präsident von Côte d’Ivoire werden. Die Wahl findet 2025 statt. Bereits wenige Monate nach seinem turbulenten Ausscheiden bei der CS brachte er sich in Stellung.

Seit vergangenem Dezember ist er der Vorsitzende einer Oppositionspartei. Thiam stammt aus einer einflussreichen Familie; seine Mutter war die Nichte von Félix Houphouët-Boigny, dem ersten Präsidenten von Côte d’Ivoire, der das Land von 1960 bis zu seinem Tod 1993 regierte.

Von 1994 bis 1999 war Thiam in Spitzenpositionen für die ivoirische Regierung tätig, zuletzt als Minister für Planung und Entwicklung. Nach einem Militärputsch 1999 verliess er das Land.

Thiam gibt an, immer wieder ein Ziel von Erpressern zu sein. Im April 2023 berichtete er auf Instagram von einem Vorfall. Jemand habe versucht, ihn zu erpressen. Er habe Anzeige erstattet.

Vor einer Woche soll sich Ähnliches ereignet haben. Die Urheber dieses Erpressungsversuchs seien wieder aktiv geworden, schreibt Thiam. Sie drohten damit, das Material seinen politischen Gegnern zuzuspielen.

Richterin: keine Nötigung

Für das Gericht in Meilen steht derweil fest: Thiams Haushälterin hat nicht versucht, ihren Chef zu nötigen. Alina Popescu wird freigesprochen. Ihr wird zudem eine Genugtuung von 2000 Franken zugesprochen.

Nötigung setzte voraus, so die Richterin, dass man jemanden gefügig machen könne. Und es sei doch sehr fragwürdig, ob eine solche E-Mail Thiam derart gefügig gemacht hätte, dass er ihr über eine halbe Million Franken ausbezahlt hätte.

Zudem sei es unwahrscheinlich, dass ein Schreiben einer Hausangestellten vom IOK derart ernst genommen worden wäre, dass Thiam ein Nachteil gedroht hätte. Zudem habe dieser damals das IOK selber über den Zivilprozess informiert.

Als sie das Urteil erfährt, schlägt Alina Popescu erleichtert die Hände vor das Gesicht.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig und könnte ans Obergericht weitergezogen werden.

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