Mittwoch, November 27

Premierminister Narendra Modi wird seine politische Macht in Zukunft stärker teilen müssen. Die westlichen Länder hoffen auf eine Stärkung der indischen Demokratie und der liberalen, regelbasierten Weltordnung. Noch gibt es dafür keine eindeutigen Signale.

Die jüngsten Wahlen haben Indiens Premierminister Narendra Modi eine dritte Amtszeit beschert. Zusammen mit Koalitionspartnern konnte er zwar eine parlamentarische Mehrheit erringen. Auf den ersten Blick überraschend ist, dass seine Partei BJP, die 2014 und 2019 jeweils die alleinige Mehrheit errungen hatte, diesen Sieg nicht wiederholen konnte.

Die BJP, die auf Kosten aller Minderheiten einen immer aggressiveren hindu-nationalistischen Kurs gefahren hat, hat gerade in ihren hindu-dominierten Stammlanden im Norden massiv Wähler verloren. Die Gründe für die Verluste der BJP und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die indische Innenpolitik werden noch einige Zeit analysiert werden.

Rückkehr zu demokratischen Standards

Über einen Grund für den Wählerverlust herrscht weitgehend Einigkeit. Die typischen Wähler von Modis BJP, Hindus aus der Unterschicht und unteren Mittelschicht, glauben ihrem Führer offenbar nicht mehr, dass die Ideologie des Hindu-Nationalismus ihrem wirtschaftlichen Fortkommen dient; sie erwarten von der Politik eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, die ihnen die ideologische Rhetorik und der massiv gewachsene Personenkult um Modi nicht gebracht haben.

Gewonnen haben kleinere, zum Teil regionale Parteien, die der neuen Regierungskoalition NDA angehören, vor allem aber die Oppositionsparteien, die sich mit der Kongresspartei zu einer neuen Koalition namens INDIA zusammengeschlossen haben. Der Premierminister, der zehn Jahre lang allein mit der parlamentarischen Mehrheit der BJP regierte, ist nun gezwungen, mit einer Koalition zu regieren.

Damit kehrt die indische Politik zu den demokratischen Standards einer Koalitionsregierung zurück, die 35 Jahre lang bis zu Modis erstem Erdrutschsieg 2014 normal waren. Die darauf folgenden zehn Jahre einer absoluten parlamentarischen Mehrheit für die BJP sollten eher als Ausnahme betrachtet werden. Die Rückkehr zur Normalität demokratischer Gesellschaften hat die Hoffnung geweckt, dass Indien nicht nur den Anspruch, die grösste Demokratie der Welt zu sein, sondern auch den Anspruch, wieder eine funktionierende Demokratie zu sein, erfüllt.

Was gewinnt oder verliert Indien unter diesen neuen innenpolitischen Bedingungen auf der internationalen Bühne?

Westliche Weltordnung hofft auf Indien

Während Modis zweiter Amtszeit wurde seine Innenpolitik zunehmend hindu-nationalistisch, antidemokratisch und autoritär. Damit wurde er zunehmend dem wachsenden Lager antidemokratischer und autoritärer Regime wie China, Russland, Iran und anderen zugerechnet. Der weitgehende Wegfall innenpolitischer «Checks and Balances» im Parlament, in den Medien und in der Öffentlichkeit hatte die Funktionsweise, aber auch das Ansehen seiner Regierung stark verändert.

Der Kreis der autokratischen Staaten dürfte das indische Wahlergebnis vorerst als Verlust empfinden, da er ein prominentes «Mitglied» verloren zu haben scheint. Nun, da die Zeit von Modis Herrschaft ohne nennenswerte parlamentarische Opposition zu Ende zu gehen scheint, hofft insbesondere die westlich geprägte, liberale und regelbasierte Weltordnung wieder auf Indien als relevantes Gewicht im Kampf für das Völkerrecht und gegen das chinesische Weltordnungsmodell zählen zu können.

Chinas Modell ist die Vorstellung einer in Machtblöcke mit exklusiven Einflusszonen aufgeteilten Welt. Modi mag international etwas von seinem Image als starker Mann verlieren, aber er könnte die internationale Anerkennung als demokratische Regierung und Gesellschaft zurückgewinnen, vorausgesetzt, es gelingt der neuen Opposition, Modis antimuslimische Politik rückgängig zu machen oder zumindest einzudämmen.

Nach aussen war es immer Modis grösstes Bestreben, Indiens internationale Bedeutung auf das Niveau einer globalen Grossmacht zu heben. Unter Modi strebt Indien die Anerkennung als gleichwertige Macht durch die Grossmächte USA und China an. Hinsichtlich des dafür notwendigen wirtschaftlichen und strategischen Gewichts liegt Indien jedoch weit hinter den USA und China zurück, und die Aussichten, zu den beiden einzigen Supermächten aufzuschliessen, sind trotz schnellem Wirtschaftswachstum und steigender Verteidigungsbudgets auf Jahre hinaus gering.

In Verfolgung seiner Ambitionen hat Modi stets eine neue, multipolare Weltordnung gefordert, in der Indien leichter eine globale Rolle spielen könnte. Im Rahmen dieser Strategie hat er sich regelmässig geweigert, sich einem Lager zuzuordnen. Einerseits hat er die militärische Zusammenarbeit mit den USA im Indopazifik ausgebaut. Gleichzeitig aber hält er auf dem Gebiet der Rüstungszusammenarbeit die aus sowjetischer Zeit stammende Beziehung mit Russland aufrecht.

Damit erinnert er auch an Indiens Rolle zur Zeit der Bewegung der Blockfreien. Und er kauft weiterhin russisches Öl und weigert sich, Russland für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu verurteilen. Damit gefährdet er die bereits weit entwickelten Netzwerke mit westlichen Partnern zugunsten der wirtschaftlichen und strategischen Interessen Indiens.

Noch keine politische Richtungsänderung erkennbar

Langfristig wäre eine neue, von einer Koalitionsregierung bestimmte Politik ein Gewinn für die Reputation Indiens im Westen, da Koalitionsregierungen eine höhere demokratische Legitimation geniessen. Ob die für Modi ungewohnten neuen Rahmenbedingungen für seine dritte Amtszeit auch eine Stärkung der liberalen, regelbasierten Weltordnung zur Folge haben werden, ist noch offen.

Erste Verhaltensänderungen seit seinem Amtsantritt lassen noch nicht erkennen, ob sich die indische Politik im angedeuteten Sinne ändern wird. Auch ist noch nicht absehbar, ob der wirtschaftsfreundliche Kurs der Regierung der letzten Jahre fortgesetzt wird. Denn es ist zu erwarten, dass eine Koalitionsregierung zugunsten eines stärkeren sozialen Ausgleichs Abstriche am wirtschaftsfreundlichen Kurs Modis erzwingen wird.

Damit ist auch nicht sicher, ob die Konsequenzen für die Wirtschaftsordnung, die sich aus dem erst im April unterzeichneten Freihandelsabkommen mit der EFTA – und damit mit der Schweiz – ergeben, auch tatsächlich umgesetzt werden. Inwieweit eine demokratisch stärker legitimierte Koalitionsregierung diese Erwartungen erfüllen kann, hängt auch davon ab, wie sich Modi im internen Kräftespiel positioniert. Als lebenslanger Ideologe mit Hang zur autokratischen Herrschaft wird er seinen Charakter und seine Persönlichkeit kaum ändern. So wird Narendra Modi auch in Zukunft eine bestimmende Kraft mit einer gewissen Unberechenbarkeit bleiben.

Das ist der vierte und letzte Teil einer Serie, in der die beiden ehemaligen Botschafter der Schweiz Daniel Woker und Philippe Welti von Share-an-Ambassador aufzeigen, wie sich der geopolitische Horizont im Grossraum Asien-Pazifik verdunkelt und die wirtschaftlichen Risiken steigen. Bereits erschienen sind: Das China von Xi Jinping und zwei Teile zur Geopolitik für Handel und Investition: das nicht-chinesische Asien sowie Taiwan und Korea.

Philippe Welti

Philippe Welti ist ehemaliger Botschafter der Schweiz in Indien und in Iran. Davor war er Politischer Direktor im Eidg. Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) im Range eines Botschafters. Heute arbeitet er als Experte für Geopolitik und Strategie mit regelmässiger Vortragstätigkeit und Veröffentlichungen über den Grossraum Asien-Pazifik, speziell über den Mittleren Osten und den Raum um den Persischen Golf. Zusammen mit dem ehemaligen Botschafter Daniel Woker hat Welti das Unternehmen Share-an-Ambassador gegründet, das sich auf geostrategische Analysen und geopolitische Due Diligence spezialisiert.

Meere und Märkte: Geopolitik 2.0 als Schlüssel zur weltpolitischen Aktualität

Die beiden früheren Schweizer Botschafter Daniel Woker und Philippe Welti – beide auch freie Autoren im Team von The Market – haben in Zusammenarbeit mit The Market ein neues Smartbook verfasst: Geopolitik, die Beschäftigung mit den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, steht am Beginn jedes Auslandsgeschäfts. Die beiden Autoren, die in ihrer diplomatischen Arbeit unter anderem in Iran, Indien, Singapur und Australien stationiert waren, geben einen kenntnisreichen Überblick über die politischen, strategischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in den verschiedenen Weltregionen. Das Smartbook «Meere und Märkte: Geopolitik 2.0 als Schlüssel zur weltpolitischen Aktualität» kann im NZZ-Shop zu einem Preis von 33 Fr. (inkl. Versandkosten) bestellt werden.
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