Sonntag, September 29

Der Titelverteidiger ist weit entfernt vom mitreissenden Calcio der EM 2020. Doch der Coach und Fussballphilosoph Luciano Spalletti hat der Squadra azzurra eine erstaunliche Widerstandskraft vermittelt.

Der italienische Nationalcoach Luciano Spalletti war im Angriffsmodus am Montagabend. Wenigstens er, mochte man denken, nach dem spielerisch schwachen und nur glücklich erreichten Remis gegen die gealterten Kroaten, womit sich die Italiener als Erste der Gruppe B für die Achtelfinals qualifiziert haben. Sie sind der Achtelfinalgegner der Schweiz am Samstag in Berlin.

Der «commissario tecnico» der Squadra Azzurra ging an der Pressekonferenz zunächst einen Journalisten an, der ihn nach seinem Systemwechsel von der Viererkette zur Dreierkette befragt hatte. «Ich habe mein Diplom über das 3-5-2 geschrieben, ich weiss, welche Folgen es hat, mit einer Dreier- oder Fünferkette zu spielen», sagte er. Spalletti gilt als Anhänger des offensiveren 4-3-3. Und als es noch jemand wagte, sich nach Spallettis Angst vor dem Ausscheiden zu erkundigen, verlor dieser die Contenance. «Wenn ich Angst hätte, würde ich wie ihr ins Stadion gehen und mir die Spiele angucken. Ich hätte dann einen anderen Job. Und würde die Tickets auch umsonst bekommen», sagte er.

Das war ungewöhnlich. Denn Spalletti hat sich im Laufe seiner mittlerweile drei Jahrzehnte währenden Trainerkarriere den Ruf eines Fusballphilosophen erarbeitet. «Ich komme aus der Gegend von Leonardo», pflegt er zu sagen. Und tatsächlich ist sein Geburtsort Certaldo nur 35 Kilometer entfernt von Vinci, dem Geburtsort des Künstlergenies Leonardo. Spalletti ist bekannt für poetische Sprüche. Verzagte Stürmer forderte er schon mit Aussagen wie dieser zu mehr Mut in der Offensive auf: «Wir brauchen die Neugier darauf, zu erkunden, was hinter der Verteidigungslinie der anderen ist.»

Die Angst vor der Blamage war offensichtlich

In zwei der drei EM-Gruppenspiele war diese Neugier der Azzurri allerdings gering. Spanien dominierte den Titelverteidiger eindrücklich. Einen «beschämenden Unterschied in der Technik der Einzelnen und des Kollektivs» attestierte die italienische Zeitung «Gazzetta dello Sport». Und auch gegen Kroatien erwachte die Lust der Italiener, den Rasen im Strafraum der Kroaten genauer in den Blick zu nehmen, erst in der letzten halben Stunde. Zu diesem Zeitpunkt war nicht einmal der dritte Platz in der Gruppe B vor Albanien sicher. Die lagen in ihrem Match gegen Spanien nur 0:1 zurück. Die Angst vor einer erneuten Blamage war offensichtlich, in den Gesichtern der entgeisterten Fans wie in der Ratlosigkeit auf der italienischen Spielerbank.

Spalletti attackierte deshalb auch seine Spieler. «Wir müssen mehr machen. In der defensiven Phase müssen wir Hand anlegen, damit nicht mehr so viele unlogische Dinge geschehen. Aber auch in der Qualität des Spielaufbaus agieren wir unter unserem Niveau. Wir müssen viel sauberer passen», sagte er.

Wenigstens im letzten Satz war der alte Spalletti wiederzuerkennen. Der hatte vor zwei Jahren die SSC Napoli mit berauschendem Offensivfussball zum ersten Meistertitel seit Maradona gecoacht. Und in seinen besten Tagen in Rom hatte er mit Francesco Totti die «falsche Neun» erfunden, die in zentraler Position die Passfolgen dirigierte.

Im Nationalteam ist Spalletti mit seinem Spielsystem allerdings gescheitert. Doch in der Squadra Azzurra verfügt er ja auch nicht über einen Ausnahmespieler wie Totti. Und auch einer wie Victor Osimhen, der in Napolis Meistersaison regelmässig ins Tor traf, fehlt Spalletti in seinem Kader.

Der Systemwechsel als Notbehelf

Es spricht für die Grösse des Trainers Spalletti, dass er mitten im Turnier sein taktisches System gewechselt hat. Gegen die Kroaten liess er nun halt unansehnlicher spielen. Das verhinderte zumindest den totalen Misserfolg. «Weniger Brillanz, mehr Substanz» hatte er öffentlich als Parole ausgegeben für das Duell mit den Kroaten. Zumindest in der letzten halben Stunde errang sein Team denn auch die Überlegenheit auf dem Platz.

Spallettis grösster Verdienst besteht darin, dass er dem total verunsicherten Kader nach dem Weggang seines Vorgängers Roberto Mancini wieder den Glauben an sich selbst vermittelt hat. Er griff rigoros durch, verbannte etwa die Playstation aus den Hotelzimmern der Spieler. Die auf das Analoge reduzierten Italiener zeigten nun eine erstaunliche Widerstandskraft – insbesondere in den Schlussminuten gegen Kroatien. Der 22-jährige Innenverteidiger Riccardo Calafiori, in diesem Jahr in Spallettis Geburtsregion Toskana aufgeblüht, ging entschlossen nach vorn. «Il Bello», der «Schöne», erinnerte in seiner Entschlossenheit an die Tugenden von Italiens einstigem Defensivpatron Giorgio Chiellini. Seinen Querpass veredelte der 29-jährige Ergänzungsspieler Mattia Zaccagni in der letzten Minute der Nachspielzeit mit einem perfekten Schuss in den Winkel. Bis dahin war Zaccagni in seinem erst vierten Länderspiel vor allem mit Schwächen bei der Ballannahme aufgefallen.

Kein Vergleich mit dem 0:3 von Rom 2021

Mit Calafiori wird es die Schweiz nicht zu tun bekommen; er fehlt am Samstag wegen zweier gelber Karten. Zaccagni, als «Retter Italiens» gefeiert, dürfte für Spalletti eine Option bleiben, sollte Italien in Rückstand geraten. Die grössten Probleme dürfte dem Schweizer Nationalteam der herausragende Goalie Gianluigi Donnarumma bereiten.

Für ein schmähliches 0:3 der Schweizer wie 2021 in Rom gibt es heuer allerdings keine Anzeichen. Zumal Italien weiterhin ein Goalgetter fehlt. Und auch Mittelfeldspieler, die – wie an der EM vor drei Jahren – aus der zweiten Reihe nachrücken und treffen, scheint es nicht zu geben. Manuel Locatelli, damals zweifacher Torschütze gegen die Schweiz, ist gar nicht erst im Kader. Und Nicolò Barella wirkt nach dem Titelgewinn mit Inter Mailand körperlich und mental ausgelaugt. Spalletti konnte ihn bisher nicht adäquat ersetzen.

Gut möglich aber, dass der 65-Jährige mit der Erfahrung von fast 800 Partien als Coach doch noch eine Überraschung parat hat. Legendär ist Spallettis Sammlung von Notizbüchern, in der er Spielbeobachtungen, Einschätzungen zum Charakter von Spielern und Assoziationen aller Art sammelt. Seine Notizen sind eine Art Archiv des kleinen Leonardo, des seiner Scholle weiter verbundenen Bauernsohns Luciano. Nur allzu gern würden die Schweizer wissen, was Spalletti zu dieser EM bereits notiert hat.

Sein Wechsel vom Ideologen des schönen Spiels zum Pragmatiker der alten italienischen Schule legt nahe, dass er auch zu radikalen Schlüssen aus den gesammelten Werken fähig ist. Nun muss er ein Mittel finden, das seine zweitklassigen Angreifer nicht nur zu Neugier auf den gegnerischen Strafraum anstiftet, sondern ihnen auch noch Treffsicherheit verleiht. Der Anfang ist Zaccagni schon einmal geglückt.

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