England setzt beim medizinischen Umgang mit transsexuellen Jugendlichen auf mehr Zurückhaltung. Der Nationale Gesundheitsdienst ist zu dem Schluss gekommen, die Langzeitfolgen von Pubertätsblockern seien zu wenig erforscht.
Die medizinische Behandlung von Kindern und Jugendlichen, die sich nicht ihrem biologischen Geschlecht zugehörig fühlen, sorgt in Grossbritannien seit längerem für hitzige Kontroversen. Hormonbehandlungen sind ab dem Alter von 16 Jahren und chirurgische Eingriffe erst ab 18 Jahren erlaubt. Doch war bis anhin die Abgabe von Pubertätsblockern, die die Produktion der Geschlechtshormone hemmen und die Pubertät aufhalten, ab dem Alter von 12 Jahren möglich.
Diese Woche nun hat der Nationale Gesundheitsdienst (NHS) für England entschieden, die Verschreibung dieser Blocker an Minderjährige bis auf weiteres einzustellen. «Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es nicht genügend Evidenz für die Sicherheit und die klinische Wirksamkeit gibt, um diese Behandlungen routinemässig anzubieten», so begründet die NHS-Leitung den bemerkenswerten Entscheid. Gleichzeitig will der öffentliche Gesundheitsdienst bis Ende Jahr ein Forschungsprogramm auf die Beine stellen, in dessen Rahmen Pubertätsblocker an jugendliche Patientinnen und Patienten unter wissenschaftlicher Begleitung abgegeben werden können.
Affäre um Genderklinik Tavistock
Mit Pubertätsblockern wurden bisher Kinder und Jugendliche behandelt, die an ihrer Geschlechteridentität zweifeln oder bei denen Geschlechtsinkongruenz diagnostiziert wurde. Der NHS beschreibt Geschlechtsinkongruenz als «Missbehagen» von Personen, deren Geschlechteridentität nicht mit ihrem biologischen Geschlecht übereinstimmt.
Die Pubertätsblocker sollten den jungen Patientinnen und Patienten dank der Verzögerung der Pubertät mehr Zeit geben, um ihre Geschlechtsidentität zu erforschen. Die Medikamente werden auch bei Kindern eingesetzt, bei denen die Pubertät zu früh ausbricht. Im 56,5 Millionen Einwohner zählenden England werden über den NHS derzeit weniger als 100 Personen mit Pubertätsblockern behandelt. Wer bereits in Behandlung ist, soll diese weiterführen können.
Hintergrund des NHS-Entscheids ist die Affäre um die umstrittene Londoner Genderklinik Tavistock. Diese schliesst im Frühling definitiv ihre Tore und wird durch regionale Zentren ersetzt, in denen die Patienten ganzheitlicher betreut werden sollen. Jahrelang hatte die Leitung der Klinik interne Kritiker ignoriert. Diese hatten die Sorge geäussert, Kinder und Jugendliche, die Geschlechtsdysphorie womöglich nur als Phase durchlebten, würden in Richtung einer Geschlechtsumwandlung gedrängt.
Zudem warnten sie davor, dass Autismus bei Mädchen oder homosexuelle Neigungen womöglich fälschlicherweise als Transsexualität gedeutet würden. An die Öffentlichkeit drangen Berichte von ehemaligen Patientinnen und Patienten, welche die Behandlungen mit Pubertätsblockern und darauffolgende hormonelle und operative Eingriffe bereuten.
Fehlende Daten zu Langzeitfolgen
2022 warf eine mit einer Untersuchung beauftragte Kinderärztin den Verantwortlichen der Klinik Verfehlungen vor. Besonders schwer wiegt, dass Tavistock entgegen den NHS-Standards keine zuverlässigen Daten sammelte und nicht untersuchte, wie es den Patienten nach den Behandlungen mittel- und langfristig ging. Diese Unterlassungen sowie mögliche Nebenwirkungen der Blocker etwa auf das Gehirn haben nun zum Entscheid des NHS beigetragen.
Die Reaktionen fallen erwartungsgemäss gemischt aus. Die Trans-Organisation Mermaids bedauert, dass Trans-Kinder nun innerhalb des NHS noch weniger Unterstützung erhielten. Die genderkritische Organisation Sex Matters spricht von einer «monumentalen Kurskorrektur». Die ehemalige Premierministerin Liz Truss, die im Unterhaus einen Vorstoss für ein gesetzliches Verbot der Gendermedizin für Minderjährige eingereicht hatte, verlangt, Grossbritannien müsse nun auch Privatkliniken die Verschreibung von Pubertätsblockern untersagen.

