Wiktor Remisows Roman «Permafrost» erzählt am Beispiel einzelner Biografien vom Leben der Lagerhäftlinge, Verbannten und Geheimpolizisten im sibirischen Norden. Ein monumentaler literarischer Solitär, so wie einst Tolstois «Krieg und Frieden».
In jedem Jahrhundert erscheint am Firmament der russischen Literatur ein epischer Komet. 1869 legte Tolstoi in «Krieg und Frieden» dar, wie Napoleons Moskau-Feldzug das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Zarenreich verändert hatte. 1980 erschien – sechzehn Jahre nach dem Tod des Autors – in einem Lausanner Verlag Wasili Grossmans kritische Darstellung des Zweiten Weltkriegs «Leben und Schicksal». Grossman hatte es in seinem Stalingrad-Epos gewagt, das sowjetische totalitäre System mit der Nazidiktatur zu vergleichen.
2021 veröffentlichte Wiktor Remisow seinen monumentalen Roman «Permafrost», in dem er das spätstalinistische Leben von Lagerhäftlingen, Verbannten und Geheimpolizisten im sibirischen Norden beschreibt. Das über 1200 Seiten starke Werk liegt nun in der glasklaren und stilsicheren Übersetzung von Franziska Zwerg auch auf Deutsch vor.
«Permafrost» weist alle Kennzeichen eines Epos auf: Individuelle Biografien entfalten sich vor dem Hintergrund einer tragischen Nationalgeschichte. Die einzelnen Figuren verfügen zwar über einen bestimmten Aktionsradius, sind aber gleichzeitig einem gnadenlosen Schicksal unterworfen. Die Handlung ergibt sich deshalb weniger aus einer Abfolge menschlicher Entscheidungen, sondern als oft zufällig erscheinendes Produkt verschiedener Wirkfaktoren.
Organisierter Wahnsinn
Die epische Qualität beruht auf der künstlerischen Komposition des Ganzen: Lebensläufe mit sprunghaften Wendungen werden mit einer schicksalhaften Stringenz ausgestattet. Eine wichtige Rolle spielen in Remisows Roman die stalinistische Ideologie, der staatliche Repressionsapparat und ein absurdes Bauprojekt des sowjetischen Diktators.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entschied Stalin, die sibirischen Flüsse Ob und Jenissei durch eine Eisenbahnstrecke zu verbinden. Obwohl das Projekt keinen wirtschaftlichen Nutzen aufwies und fertiggestellte Strecken innerhalb kürzester Zeit durch Geländebewegungen unbefahrbar wurden, wurden über hunderttausend Zwangsarbeiter jahrelang für das Bauwerk eingesetzt. Erst nach Stalins Tod 1953 wagte es die Sowjetregierung, dem organisierten Wahnsinn ein Ende zu setzen.
Wie in einem Laborexperiment beobachtet Remisow seine Figuren unter schwierigsten klimatischen und politischen Bedingungen. Kunstvoll verknüpft er verschiedene Erzählstränge, in denen sich der mutige Lebenswillen der Menschen auch in einem totalitären System durchsetzt.
Sein Protagonist macht eine bemerkenswerte Wandlung durch: Below, der Kapitän eines Jenissei-Schleppers, tritt zu Beginn des Romans als überzeugter Stalinist auf. Er glaubt an den Aufbau des sozialistischen Staates und rechtfertigt den Terror als notwendiges Übel. Nachdem er selbst unter absurden Vorwürfen verhaftet worden ist, stellen ihn seine Peiniger vor die Wahl, entweder seine Schifffahrtskameraden zu verleumden oder seine Geliebte mit Kind ins Lager zu schicken. Auch nach schwerer Folterung bleibt Below standhaft, er sucht den Ausweg im Selbstmord, wird aber in letztem Moment durch den Tod Stalins gerettet.
Und überall Frost
Der angesehene Geologe Gortschakow arbeitet als Feldscher in einem Straflager. Er wurde schon vor dem Krieg während des grossen Terrors zu einer fünfundzwanzigjährigen Haftstrafe verurteilt. Seine Frau lebt in Moskau und wird von den Behörden bedrängt, weil sie mit einem angeblichen Volksfeind verheiratet ist. Gortschakow hat aufgehört, ihr Briefe zu schreiben, und rät ihr, sich einen neuen Mann zu suchen.
In ihrer Verzweiflung macht sie sich mit ihren Kindern auf in den hohen Norden und will ihnen den Vater zeigen. Auf der Reise gibt sie sich einem Geheimdienstoffizier hin, um ihre Familie zu retten. Ihr jüngerer Sohn ertrinkt im Jenissei. Als sie Gortschakow endlich findet, fühlt sie zunächst nur Trauer und Entfremdung. Allerdings wird sie schwanger und plant ein gemeinsames schwieriges Leben in der Nähe ihres gefangenen Mannes.
Der eigentliche Held ist in Remisows Epos aber die herbe und gefährliche Landschaft des Nordens. Der Titel «Permafrost» signalisiert nicht nur die widrigen Existenzbedingungen der Menschen, die sich vor der durchdringenden Kälte, aufgetürmtem Eis und hungrigen Wildtieren schützen müssen. Im Permafrost befindet sich auch die gesamte spätstalinistische Gesellschaft. Die eigenwillige Natur lässt sich nicht bändigen, weder durch eine Eisenbahn noch durch die Einrichtung von Bergwerken zum Abbau wertvoller Metalle.
Der erbarmungslose Norden verschlingt die Gulag-Sträflinge, die zu Tausenden in die neu gegründeten Lager verschifft werden. Die Zwangsarbeiter schinden sich – nicht um den grössenwahnsinnigen Plan des Diktators zu erfüllen, sondern um einen letzten Rest an Menschenwürde zu bewahren. Einigen gelingt nicht einmal dies: Sie werden zu «Verkümmerern», die dem Tod gleichgültig entgegendämmern.
Schliesslich siegt aber die Natur auch über den selbsternannten Demiurgen im Kreml: Kaum ist Stalin gestorben, kommt es zu einem Aufstand im Lager von Norilsk. Die politischen Häftlinge fordern eine Überprüfung ihrer Urteile, das System schlägt aber brutal zurück und hetzt die gewaltbereiten Verbrecher auf die protestierenden Opfer des Stalinismus.
Religiös fundierter Humanismus
Wiktor Remisow ist keine typische Erscheinung in der russischen Gegenwartsliteratur. Er musste seinen Platz in den Kultureliten der Hauptstädte erst erkämpfen. Bis heute ist er ein Aussenseiter geblieben, obwohl er in der Nähe von Moskau wohnt. Seine Bücher erscheinen in Verlagen im russischen Fernen Osten, in Chabarowsk und in Wladiwostok. Remisow wurde 1958 in der Provinzstadt Saratow geboren und erhielt zunächst eine Geologenausbildung am lokalen Technikum. Danach erkundete er mit einer Expedition Nordsibirien. Nach einem Literaturstudium an der Moskauer Universität verdiente er seinen Lebensunterhalt als Lehrer und Journalist.
2014 erregte er mit seinem Roman «Freie Freiheit» erstmals die Aufmerksamkeit der Literaturkritik. In diesem Buch beschreibt er Jäger in der Taiga, die mit russischen Polizisten in Konflikt geraten. Zur politischen Situation in Russland äussert sich Remisow kaum. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine empfahl er die Lektüre der Essays von W. H. Auden.
Remisow vertritt einen religiös fundierten Humanismus und weist darauf hin, dass es zu einfach wäre, alle historische Schuld einfach den Herrschern in die Schuhe zu schieben. In einem Interview sagte Remisow, der Roman «Permafrost» handle weder von Stalin noch sei er «antistalinistisch». Tatsächlich weigern sich die Protagonisten sogar, Stalin nach seinem Tod als Verbrecher zu verdammen. Gortschakows Frau nennt Stalin den «unglücklichsten aller Menschen», und Below sieht zwar, dass seine Liebe zu Stalin verschwunden ist, aber er ist nicht bereit, «ihn für seine Qual und Demütigung anzuklagen».
Mit Blick auf die Gegenwart kritisiert Remisow zwar das staatliche Vorgehen gegen die Gesellschaft Memorial, die systematisch Informationen über die sowjetischen Verbrechen gesammelt und veröffentlicht hatte. Gleichzeitig weist er aber darauf hin, dass die Menschen in Russland ihre staatsbürgerliche Verantwortung wahrnehmen müssten. Seinen eigenen Beitrag hat er auf höchstem moralischem und literarischem Niveau mit dem Roman «Permafrost» geleistet.
Viktor Remizov: Permafrost. Roman. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. Europa-Verlag, München 2025. 1254 S., Fr. 57.90.