Sonntag, September 8

Bern hat bisher praktisch alle EU-Sanktionen gegen Russland übernommen. Die Verwendung von Erträgen aus gesperrten Vermögen der russischen Zentralbank wäre aber völkerrechtlich zweifelhaft.

Wo ein Wille ist, ist ein Weg. Ob dieses Motto beim Umgang des Westens mit den blockierten Vermögen der russischen Zentralbank am Ende bestätigt wird, muss sich noch zeigen. Der politische Wille ist jedenfalls gross: Man verwende die gesperrten russischen Staatsgelder von umgerechnet etwa 300 Milliarden US-Dollar für die Ukraine. Russlands Verantwortung für den brutalen Angriffskrieg ist klar, und die Schäden in der Ukraine dürften die Summe der gesperrten Gelder noch bei weitem übersteigen.

Aber die Hürden des internationalen Rechts (Völkerrecht) sind hoch. So darf ein Land nicht einfach auf Vermögen eines anderen Staats zugreifen – sonst wären geordnete Staatsbeziehungen schwierig. Doch Russland hat mit seinem krassen Bruch des Völkerrechts enormen Schaden angerichtet und ist rechtlich zu Schadenersatz verpflichtet. Zudem können Gegenmassnahmen zulässig sein, die sonst völkerrechtswidrig wären. Bei schweren Völkerrechtsverletzungen à la Russland sind laut verbreiteter Einschätzung Gegenmassnahmen durch alle anderen Staaten zulässig.

Abgespeckte Ambitionen

Solche Massnahmen sollten aber laut gängiger Interpretation den Zweck haben, den Sünder zur Vernunft zu bringen. Eine Blockierung von Vermögen kann als Druckmittel dienen, doch bei einer Konfiszierung würde dieser Sanktionszweck hinfällig. Deshalb tut sich der Westen noch immer schwer. Die EU, wo gut zwei Drittel der gesperrten russischen Zentralbankvermögen liegen, versucht es nun ernsthaft mit einer abgespeckten Version. Die EU-Kommission hat am Mittwoch offiziell vorgeschlagen, wenigstens den Grossteil der Erträge aus gesperrten Vermögen für die Ukraine zu verwenden.

Konkret geht es um die Gelder, die bei Euroclear in Belgien liegen – etwa 180 bis 200 Milliarden Euro. Euroclear ist als Verwahrer von Wertpapieren und als Abwickler von Wertpapiertransaktionen sowie Zins- und Dividendenzahlungen ein Pfeiler des internationalen Finanzsystems. Euroclear hat 2023 durch die Anlage von blockierten russischen Zentralbankgeldern, die sonst zinslos herumgelegen wären, einen Ertrag von 4,4 Milliarden Euro erzielt. Davon lieferte das Unternehmen einen Viertel als Gewinnsteuer an den belgischen Staat ab – der dieses Geld in die Ukraine leiten will.

Die EU-Kommission will nun künftig den grössten Teil der Sondererträge von Euroclear für Waffen und Aufbauhilfe zugunsten der Ukraine verwenden. Das könnte laut EU-Schätzung 2,5 bis 3 Milliarden Euro pro Jahr ausmachen. Für den Vollzug braucht es die Zustimmung aller EU-Mitgliedländer.

Gesuchte Rechtfertigung

Die EU-Kommission hat ihren Vorschlag laut eigenen Angaben im Rahmen der G-7-Länder abgestimmt. Zur G-7 gehören nebst drei EU-Ländern die USA, Grossbritannien, Japan und Kanada. Die völkerrechtliche Rechtfertigung der EU-Kommission für ihren Vorschlag: Die Erträge auf den gesperrten Vermögen gehörten nicht Russland, da Euroclear keine entsprechenden vertraglichen Verpflichtungen habe.

Aus ökonomischer Sicht ist diese Argumentation skurril: Der Eigentümer eines Vermögenswerts hat grundsätzlich auch Anspruch auf die Erträge daraus – und das Einfrieren der Vermögen verunmöglichte der Moskauer Zentralbank die Wiederanlage von brach herumliegenden Geldern. Doch sieht das Bild aus völkerrechtlicher Sicht anders aus? «Ich sehe keine völkerrechtliche Grundlage für eine unterschiedliche Behandlung von Vermögen und Vermögenserträgen», sagt Oliver Diggelmann, Rechtsprofessor an der Universität Zürich. Den EU-Fokus auf die Verwendung der Erträge sieht er als «Ergebnis der Suche nach einem politisch handhabbaren Kriterium». Der Fokus auf Erträge «setzt eine klare Grenze, um Forderungen nach Verwendung des Gesamtvermögens abzuweisen».

Auch in Bundesbern sind rechtliche Bedenken zur unterschiedlichen Behandlung von Vermögen und Vermögenserträgen zu vernehmen. Eine Studie des Forschungsdiensts des EU-Parlaments von diesem Februar äusserte ebenfalls Zweifel an der Zulässigkeit des EU-Vorschlags. Etwas anders könnte es gemäss dem Papier aussehen, wenn man die Erträge auf ein Sperrkonto überweist und dann diese Gelder als Pfand für Darlehen an die Ukraine verwendet. Doch auch ein solcher Dreh würde laut der Analyse zumindest vorübergehend auf einen rechtlich angreifbaren Vermögenseinzug hinauslaufen.

Man mag sagen, angesichts der russischen Verbrechen sei juristischer Formalismus fehl am Platz. Doch wer den Krieg als Kampf von Demokratie und Rechtsstaat gegen das Böse sieht, mag bei der Aushöhlung der eigenen rechtsstaatlichen Prinzipien zurückhaltend sein wollen. Rechtsanwendung ist allerdings nicht Mathematik, und das gilt besonders für das Völkerrecht: Manches ist interpretationsbedürftig, und wer lange genug sucht, findet kreative Köpfe, welche die politischen Absichten juristisch untermauern.

7,4 Milliarden in der Schweiz

Setzen die EU und die G-7-Länder ihre Absicht zur Verwendung der Erträge gesperrter Zentralbankvermögen um, dürfte dies auch in der Schweiz neue Überlegungen auslösen. Die Schweiz hat in den letzten zwei Jahren bis auf einzelne kleine Ausnahmen alle EU-Sanktionen gegen Russland übernommen. Auch in der Schweiz sind Gelder der russischen Zentralbank eingefroren: umgerechnet rund 7,4 Milliarden Franken (Stand Mai 2023).

Diese Gelder liegen dem Vernehmen nach nicht bei der Nationalbank oder bei einer Verwahrungsstelle à la Euroclear, sondern bei privaten Banken. Bei einem Zins von 2 Prozent könnte dies jährliche Erträge von 150 Millionen Franken bringen: ein Tropfen auf den heissen Stein angesichts der Kriegsschäden, aber trotzdem nicht zu verachten.

Die Absichten der EU zur Geldverwendung sind derzeit beschränkt auf zentrale Verwahrungsstellen (konkret: Euroclear). Wie stark dies die Diskussion zu einem allfälligen Schweizer Nachvollzug entschärft, ist unklar. Laut Beobachtern würde es aber nicht erstaunen, wenn bei Umsetzung der EU-Pläne auch die Schweiz mit entsprechenden Erwartungen konfrontiert wird. In diesem Szenario wäre in Bundesbern ein Zielkonflikt zwischen rechtlichen Bedenken und aussenpolitischen Wünschen auszutragen.

Exit mobile version