Endlich wird der Filmemacher in einer grossen Biografie wiederentdeckt. Und die Berlinale zeigt Saless’ Film «Reifezeit» über den Sohn einer alleinerziehenden Sexarbeiterin, der davon träumt, ein Fahrrad zu besitzen.
Wer Deutschland kennt, weiss um die trostlosen Parks an Herbsttagen, die kopfsteinbepflasterten Nebenstrassen in erstickend schweigsamen Kleinstädten, die endlosen Reihen parkierter Autos und die dunklen Treppenhäuser, in denen immer wer fegt, aber nie wer lacht. Zugegeben, das ist ein bisschen zugespitzt und klischeehaft, aber es trifft dieses bis heute anhaltende Gefühl einer gesellschaftlichen Bewusstlosigkeit, von der Hans Magnus Enzensberger einmal schrieb, sie sei Grundbedingung für den westdeutschen Erfolg nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute gewesen.
Man entfremdet sich vom Leben, um besser zu funktionieren. Dass es einem Exiliraner wie Sohrab Shahid Saless gelang, diese Nicht-Orte deutscher Identität und die schlimmsten Ausprägungen dieser quasi-apathischen Verdrängungsgesellschaft der 1970er und 1980er Jahre in deren Kern zu erfassen, mag nur auf den ersten Blick überraschen. Die Aussenperspektive war schon immer weniger belastet, und Saless identifizierte sich durchaus mit dem Deutschsein. Er war, nach einem Wort Paul Celans, «eingefremdet», er integrierte sich und gehörte doch nie dazu.
Glücklich war er nie
Saless lebte in Iran, emigrierte von dort zunächst nach Österreich und Frankreich, um zu studieren, später dann wirkte er in Deutschland, kurz in der Tschechoslowakei, und schliesslich verbrachte er seine letzten Jahre in den USA. Liest man die veröffentlichten Briefe und Gespräche, kann man festhalten: Glücklich war er nie. Sein Leben war geprägt von Krankheit, schwierigen Beziehungen, Armut und Unangepasstheit.
Er wurde als Weltbürger des Kinos beschrieben, aber dem Verdacht der Bürgerlichkeit entzieht sich Saless vollends. Stattdessen kann man in ihm einen kompromisslosen Künstler entdecken, der frei nach seinem Vorbild Anton Tschechow, dessen Erzählung «Der Weidenbaum» er verfilmte und über den er auch einen Porträtfilm drehte, mit dem Seziermesser an seine Stoffe und Protagonisten heranging. Dazu zählt bei allem Malaise auch Humor.
Seine Filme gehören zu jenen, die den eigenen Blick auch ausserhalb des Kinos nachhaltig verändern. Plötzlich spürt man die soziale Kälte in den Blicken der Menschen, deren Ängste von der Kamera freigelegt werden. Schon viele haben festgestellt, dass das Leben absurd ist, Saless hat es dokumentiert.
In «Reifezeit», einem seiner ersten in Westdeutschland realisierten Filme – in einer digital restaurierten Fassung nun an der Berlinale uraufgeführt –, zeigt Saless einen Knaben, Sohn einer alleinerziehenden Sexarbeiterin, der davon träumt, ein eigenes Fahrrad zu besitzen. Statt sich der Strategien eines sozialrealistischen Mitleidfilms zu bedienen, legt der Filmemacher die Strukturen dar, die eine ausweglose Lebenswirklichkeit bedingen. Es reicht, das Gebaren des Lehrers und der Nachbarn zu sehen, es genügt ein kurzes Gespräch des Buben mit einem Kunden seiner Mutter, um zu verstehen, dass etwas im Argen liegt, was nichts mit Einzelschicksalen zu tun hat. Ähnliches gilt für «In der Fremde», in dem Saless das migrantische Leben in der BRD betrachtet.
Wiederentdeckung des Werks
Dass dieses hier an Rainer Werner Fassbinder, dort an Abbas Kiarostami erinnernde und doch sehr eigenständige Werk vergleichsweise vergessen wurde, zeigt einmal mehr, wie nationalistisch sich Filmgeschichtsschreibung letztlich ergibt. Wer nirgends dazugehört, wird übersehen. Gut, dass sich eine Initiative wie das «Shahid Saless Archive» um die Bewahrung und die Wiederentdeckung eines transnationalen Werks bemüht, und schön auch, dass es einer umfangreichen Publikation wie «Die langen Ferien des Sohrab Shahid Saless» gelingt, den Filmemacher weiter im Kanon zu etablieren. So wird etwas sichtbar gemacht, was viel erzählt über das Fremdsein, das Deutschsein, Rassismus, Machtstrukturen und chauvinistische Gesellschaftsformen.
«Wer ehrlich arbeitet und seine Pflichten tut, der kann sich auch was leisten,» sagt der betrunkene Schwiegervater in «Rosen für Afrika», einem späten Film von Saless, und legt damit gleich den ganzen Mief und die ganze Lächerlichkeit einer selbstgerechten Bürgermoral offen. Seine Protagonisten spielen nach anderen Regeln, und genau deshalb sind sie oft an den Rand gedrängt. Mehr als eine Identitätssuche, die das heutige Kino dominiert, sind die Figuren von Saless verloren, weil sie in einer gesellschaftlich festgelegten Identität gefangen sind. Das ist wenig erbaulich, aber aufrichtig.
Wirklich hinzusehen, war für diesen Filmemacher stets wichtiger, als zu erzählen. Dass einer seiner bekanntesten Filme «Utopia» heisst, wirkt da fast höhnisch. Fast ausschliesslich in einer zum Bordell umgestalteten Wohnung angesiedelt, offenbart die Arbeit, wie Kapitalismus und Sexualität zu einem patriarchalen Machtsystem vermischt werden. Das ist ein globales und kein deutsches Phänomen, die organisierte Art der Machtausübung sowie die Rolle der knapp gehaltenen Sprache jedoch verweisen auf einen in den kapitalistischen Alltag übertragenen Faschismus.
Eine Welt ohne Liebe
Es ist unmöglich, ein Œuvre wie jenes von Saless auf den Punkt zu bringen. Wenn man es versuchte, würde man wohl feststellen, dass seine Filme von einer Welt erzählen, der die Liebe abhandengekommen ist. Zumindest sind die Menschen nicht mehr in der Lage, sie richtig zu kommunizieren. Die aufrichtigen Annäherungen zwischen Karola und Paul in «Rosen für Afrika» etwa werden fast gewaltvoll vorgetragen, die deutsche Romantik zeigt sich einmal mehr als eine, die bereits vorher um ihr Scheitern weiss. Eigentlich sind die Aufnahmen einsamer, sich selbst und andere ausbeutender Gestalten Bilder des Neoliberalismus avant la lettre. Gleichzeitig aber versteckt sich bei Saless in jeder noch so kleinen Geste der Zuneigung ein Anlass, das Leben zu ändern. Wahre Gefühle zeigen sich zwischen den Zeilen und den Blicken. Dann geht es um etwas, vielleicht sogar um das Überleben des Menschlichen.
Mit so viel Pathos hätte Saless nichts anfangen können. «Das Wesentliche ist, das Leben zu filmen, das auf eine sehr einfache Weise ziemlich kompliziert ist», sagte er einmal. Was er damit meint, zeigt sich beispielsweise in seinem «Stillleben», einem seiner zwei iranischen Langfilme. Minutenlang filmt der Regisseur, wie eine Teppichknüpferin geduldig einen Faden durch ein Nadelöhr zieht, während ihr Ehemann eine Zigarette dreht. Mehr passiert nicht. Die Dauer der Szene und das Unausgesprochene in ihr ergeben jedoch eine ganz eigene Spannung, die einen gerade deshalb fesselt, weil man begreift, dass die Zeit für alle gleich vergeht, egal, was geschieht.
Behrang Samsami: Die langen Ferien des Sohrab Shahid Saless. Exil-Verlag, Frankfurt 2023. 3 Bände, 1500 S., 99 Euro.