Paolo Colombani erklärt, dass es selbst bei idealer Ernährung ein Mindestmass an Bewegung brauche, um lange und gesund zu leben. Die Ernährungsempfehlungen der Gesundheitsbehörden und die Verteufelung von Fetten hält er für falsch.

Herr Colombani, es gibt das Klischee des Ausdauersportlers, der vor dem Wettkampf Spaghetti in sich hineinschaufelt. Andere Athleten verteufeln Kohlenhydrate. Was gilt nun?

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In der Ernährung ist alles eine Frage der Zielperson. Wir können von zwei Extremen ausgehen: von Ausdauersportlern, die vor einem Wettkampf wie einem Marathon oder einem Halbmarathon Kohlenhydrate schaufeln und damit ihre Glykogenspeicher füllen. Dass das sinnvoll ist, ist durch die Forschung seit Jahrzehnten belegt. Doch es gibt auch das andere Extrem: Couch-Potatoes, die täglich stundenlang vor Monitoren oder auf dem Sofa sitzen. Ihre Ernährung sollte möglichst arm an Kohlenhydraten sein. Zwischen diesen Extremen gibt es alle möglichen Optionen von Bewegung und Ernährung, wobei eine Ernährungsempfehlung immer auf eine spezifische Person bezogen sein muss. Eine pauschale Antwort ist unmöglich und wäre fachlich falsch.

Nehmen wir eine Freizeitsportlerin, die drei Mal in der Woche joggen geht und ab und zu mit dem Rennvelo oder Mountainbike unterwegs ist. Wie sieht das ideale Menu für diese Person aus?

Breitensportler, die zwei, drei Mal pro Woche moderat trainieren und primär Spass an der Bewegung, aber keine Pläne für Wettkämpfe haben, sollten sich mediterran ernähren.

Was bedeutet das?

Rund 15 Prozent der Gesamtenergie werden durch Proteine, also zum Beispiel Fleisch, Fisch oder Milchprodukte, aufgenommen. Die übrigen 85 Prozent sollte diese Person rund hälftig verteilt auf Kohlenhydrate wie Pasta, Kartoffeln oder Reis und Fette, etwa in Form von Olivenöl, zu sich nehmen. Die mediterrane Diät widerspricht allerdings sämtlichen offiziellen Ernährungsempfehlungen.

Inwiefern?

Die Ernährungsempfehlungen, wie sie auch in der Schweiz gelten, sind durch keine Studie belegt, man denkt einfach, man müsse Fett reduzieren, was falsch ist. Im Gegensatz zur mediterranen Diät, die gut erforscht ist. Die grossen Gesundheitsorganisationen sehen für die allgemeine Bevölkerung einen Kohlenhydrat-Anteil von 45 bis 70 Prozent vor. Die mediterrane Diät empfiehlt hingegen nur einen Anteil von 40 bis 45 Prozent. Die offiziellen Empfehlungen der Gesundheitsorganisationen halten die mediterrane Diät deshalb für «nicht gesundheitsfördernd».

Warum empfehlen Sie diese Ernährungsform trotzdem?

Die mediterrane Diät ist nachweislich die Ernährungsweise mit den geringsten gesundheitlichen Risiken. Je stärker die Ernährung einer Person dieser Diät entspricht, desto geringer ist ihr Risiko, an den bekannten, nicht übertragbaren Zivilisationskrankheiten zu erkranken: an Herz-Kreislauf-Problemen, Diabetes, Krebs, Parkinson, Alzheimer.

Spielen dabei auch der Lebensstil und das Klima in den mediterranen Ländern eine Rolle?

Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass die mediterrane Diät auch ausserhalb des Mittelmeerraums die gleichen Effekte hat.

Weshalb kommen die Gesundheitsbehörden zu anderen Schlüssen als Sie?

Das ist historisch bedingt. Die Reduktion der Fettzufuhr war eine der ersten Fettempfehlungen, die eine Gesundheitsbehörde abgegeben hat. Die Fettreduktion-Empfehlung beruhte auf einer nicht belegten Hypothese und ist seither vielfach von Wissenschaftern widerlegt worden. Sie floss 1977 aber in die offizielle Ernährungsempfehlung der USA ein, wobei ein Komitee aus Senatoren die Ernährungsziele der Amerikaner festlegte und sich dabei auf die Empfehlung dreier Experten stützte. Andere Länder übernahmen diese Empfehlungen, offensichtlich ohne sie auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Die restriktiven Empfehlungen bezüglich Fettzufuhr sind seither nicht mehr verschwunden.

Die Menschen haben also immer noch Angst vor dem Begriff Fett?

Ja, das muss ich bei jedem Vortrag, den ich halte, auflösen. Die Studienlage ist klar: Mehr gesättigte Fette oder tierische Fette zu konsumieren, steigert das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht.

Neben Fett sind auch Kohlenhydrate als «Dickmacher» verschrien. Zu Recht?

Es kommt immer auf die körperliche Aktivität an, bei der Kohlenhydrate verbrannt werden. Ist die Aktivität zu gering, dann besteht die Gefahr, dass der Körper die eingenommenen Kohlenhydrate in Form von Fett bunkert – und gleichzeitig steigt die Gefahr für viele Erkrankungen. Dass Kohlenhydrate als «Dickmacher» gelten, ist also nicht völlig falsch.

Für wen ist es sinnvoll, Kohlenhydrate zu reduzieren?

Zum Beispiel für Menschen, die es vielleicht nur einmal in der Woche in ein Fitnessstudio schaffen oder gar keinen Sport betreiben. Das sind Low-Carb-Kandidaten, auch wenn wir diesen Begriff in der Forschung vermeiden, wir sprechen von einer den Umständen entsprechenden Kohlenhydratzufuhr. Grundsätzlich gilt: je weniger Bewegung, desto problematischer sind viele Kohlenhydrate.

Droht einer Person, die körperlich moderat aktiv ist und Kohlenhydrate reduziert, auf der Joggingrunde ein Hungerast?

Kohlenhydrate zu reduzieren, sich also «low carb» zu ernähren, bedeutet nicht, dass man gar keine Kohlenhydrate zu sich nimmt. «Low carb» heisst, dass man so viele Kohlenhydrate zu sich nimmt, wie man wieder verstoffwechselt, also Input gleich Output. Die Menge der verstoffwechselten Kohlenhydrate ist bei Couch-Potatoes allerdings gering. Je stärker eine Person aktiv ist, desto mehr Kohlenhydrate verträgt sie, ohne dass negative Auswirkungen auf die Gesundheit drohen. Die Gretchenfrage lautet nun natürlich: Wie hoch ist die körperliche Aktivität in der Allgemeinbevölkerung? Ziemlich gering, leider.

Der Ernährungsexperte

PD

Paolo Colombani

bko. Paolo Colombani ist promovierter Ernährungswissenschafter und Wissenschaftsautor. Er forschte fast zwanzig Jahre an der ETH Zürich zu körperlicher Aktivität, Ernährung und Gesundheit; heute arbeitet der 56-Jährige als wissenschaftlicher Berater. Colombani hat mehrere Bücher zu Ernährungsfragen verfasst und ist der Präsident des unabhängigen Kompetenzzentrums Notabene Nutrition, das Forschungserkenntnisse einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht.

Wie findet man als moderat Sport treibende Person heraus, ob die Kohlenhydratspeicher leer sind? Im übertragenen Sinn also der Treibstoff fehlt.

Eine Person, die regelmässig drei Mal wöchentlich eine Stunde lang joggt, also eine gewisse Erfahrung darin hat, merkt gut, ob sie am Ende des Trainings völlig erschöpft ist und in den letzten zehn Minuten bereits ausgepumpt war. Falls das der Fall ist, ist sie die letzten Kilometer mit entleerten Glykogenspeichern gelaufen. Fühlt sie sich nach dem Training hingegen so gut, dass sie noch einen Berg oder die Treppe daheim hochrennen könnte, dann sind die Speicher nicht geleert. Einige wenige Spitzensportler lassen das messen, alle anderen aber müssen sich auf ihr Bauchgefühl verlassen.

Hat die Gesellschaft ein Ernährungs- oder ein Bewegungsproblem?

Ganz klar ein Bewegungsproblem.

Warum?

Viele Menschen versuchen Probleme, die wegen zu wenig Bewegung auftreten, mit anderer Ernährung zu lösen. Wenn ich die Gesundheit als Fokus habe, komme ich um ein Mindestmass an Bewegung aber nicht herum.

Was heisst ein Mindestmass an Bewegung?

So ungenau Schrittzähler sind: Plus/minus 5000 Schritte pro Tag, und zwar an jedem Tag im Jahr, sind das Mindestmass. Sinnvoller sind 7000 bis 8000 Schritte pro Tag. Bewegung beinhaltet in der Forschung alle Arten von Bewegung, also auch Krafttraining. Wir wissen, dass Leute, die nur Krafttraining machen, das aber regelmässig tun, die gleichen positiven Gesundheitseffekte haben wie jene, die kardiovaskulär trainieren.

Wenn das Ziel darin besteht, möglichst lange gesund zu sein, kommt es also sowohl auf die Bewegung als auch die Ernährung an. Welcher der beiden Faktoren ist für die Gesundheit wichtiger und weshalb?

Wenn man nur diese Faktoren berücksichtigt – was falsch wäre –, dann ist das Verhältnis der beiden Faktoren etwa 60 Prozent zu 40 Prozent oder sogar zwei Drittel körperliche Aktivität zu einem Drittel Ernährung. Ein Grund für diese Aufschlüsselung ist der, dass wir ein Minimum an körperlicher Aktivität benötigen, um gesund zu bleiben. Bei vielen Personen fehlt bereits dieses Mindestmass, sie können mittels Ernährung nur noch den Schaden begrenzen. Für einen ganzheitlichen gesunden Lebensstil sind aber noch weitere Faktoren zentral: genügend Schlaf, Vermeidung von Stress sowie von Umweltgiften wie etwa durch Rauchen.

Angenommen, jemand bewegt sich genug und ernährt sich mediterran. Welche Rolle spielt die Zubereitung der Mahlzeiten?

Lebensmittel sollen möglichst traditionell zubereitet werden, wie es meine Mutter oder bei der jüngeren Generation die Grossmutter gemacht hat. Getreide zu Brot gebacken oder zu Pasta verarbeitet, geht noch. Doch Lebensmittel, die stärker verarbeitet sind, gilt es zu vermeiden. Das Ziel wäre, ein Bauchgefühl zu entwickeln. Meine Mutter oder meine Grossmutter hatten keine Ahnung von Ernährungsempfehlungen. Sie haben aber frisch gekocht und sich immer bewegt.

Wie erkenne ich als Laie zu stark verarbeitete Lebensmittel?

Wenn die Zutatenliste länger und länger wird und ich die Inhaltsstoffe auf dieser Liste nicht kenne, sind das Anzeichen für zu starke Verarbeitung. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse aus den letzten zehn Jahren: Je mehr hochverarbeitete Produkte man zu sich nimmt, desto stärker steigt das Risiko für Zivilisationskrankheiten wie Bluthochdruck oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen – und zwar weltweit.

Wie viele «Sünden» mag es bei genügend Bewegung in der Ernährung vertragen?

Ich wende die 80-zu-20-Regel an: Wenn vier Fünftel meiner Ernährung so wie beschrieben aussehen, dann kann ich den Rest auch einmal schleifen lassen.

Wie viele Ernährungs-«Sünden» lassen sich durch genügend Bewegung kompensieren?

Etwa der erwähnte Fünftel, es ist aber eine Frage des Ziels. Will ich lange und gesund leben, dann gilt es, möglichst in Bewegung zu bleiben und auf die Ernährung zu achten. Und jene Sünden wählen, die am wenigsten schädlich sind. Also einen Kuchen zu geniessen, wie sie unsere Grossmütter gebacken haben, statt Fertigprodukte.

Angenommen, wir möchten weniger Kohlenhydrate zu uns nehmen: langsame Reduktion oder kalter Entzug von Pasta und Co?

Der Stoffwechsel adaptiert Umstellungen in der Regel rasch, es kommt also nicht so darauf an. Einen kalten Entzug muss sich niemand antun. Man sollte aber nie nur die Ernährung anschauen, sondern muss immer auch mitbedenken, wie viel sich eine Person bewegt. Wenn eine Person die richtige Ernährung für sich finden will, muss sie sich immer zuerst fragen, was denn ihr Ziel ist.

Kohlenhydrate sind wichtig für die Bildung von Serotonin. Droht nach der Umstellung schlechte Laune?

Nein, das lässt sich mit einem Blick zurück in die Evolution erklären. In der vorlandwirtschaftlichen Zeit waren die Kohlenhydrate begrenzt, ohne Auswirkungen auf die Laune der Menschen. In der landwirtschaftlichen Phase stieg die Verfügbarkeit von Kohlenhydraten, doch damals waren die Leute ständig in Bewegung, das war ebenfalls kein Problem. Mittlerweile aber ist die Bewegung bei vielen Menschen weggefallen, und die Probleme haben begonnen.

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