Die Reds unterliegen im Achtelfinal Paris Saint-Germain im Elfmeterschiessen. Die Taktik des Trainers Arne Slot funktioniert für einmal nicht. In der Mannschaft zeichnet sich ein Umbruch ab, weil Leistungsträger in die Jahre kommen.
Die Tränen von Mohamed Salah werden wahrscheinlich genauso lange in Erinnerung bleiben wie das epische Duell zwischen seinem FC Liverpool und Paris Saint-Germain, von dem sich jeder Fussballfan wünschte, es würde nie abgepfiffen werden.
Salah hatte als erster Liverpooler Schütze im Elfmeterschiessen getroffen. Doch weil zwei seiner Teamkollegen am Pariser Goaliehelden Gianluigi Donnarumma scheiterten und alle vier Versuche von PSG erfolgreich waren, erlitten die Reds eine schmerzhafte Niederlage.
Salah lief allein zum Stadionausgang. Einige Mitspieler versuchten ihn aufzumuntern. Aber der Torjäger war durch niemanden zu trösten, weil er wohl spürte, dass soeben im Stadion an der Anfield Road mehr verlorengegangen war als ein Achtelfinal in der Champions League – für seinen Verein, für seine Mannschaft, auch für sich selbst.
Am sternenklaren Dienstagabend wirkte es, als wären zwei lange leuchtende Europacup-Sterne des Klubs plötzlich ausgebrannt. Zum einen verlor der FC Liverpool erstmals in seiner Historie ein Elfmeterschiessen in der Champions League. Zum anderen büsste er auch den Mythos ein, sich bis dato in allen K.o.-Duellen an der heimischen Spielstätte durchgesetzt zu haben, wenn er zuvor im Hinspiel auswärts mit einem Sieg vorgelegt hatte.
Nach Liverpools 1:0-Erfolg in Paris in der Vorwoche waren also alle Sterne auf Viertelfinal-Einzug gestanden. Doch nun mussten die Reds erkennen, dass selbst die verlässlichsten Sterne kein ewiges Leben haben.
Ungewohnter Powerplay-Fussball
Womöglich war man sich der Sache zu sicher gewesen. Diesen Eindruck konnten Beobachter dadurch erhalten, dass Liverpools Trainer Arne Slot die Taktik im Vergleich zum Hinspiel ohne ersichtlichen Grund verändert hatte. Trotz des Vorsprungs, der die Pariser zu mehr Risiko gezwungen hätte, suchte Liverpool unter Slot erstmals in dieser Saison von Beginn an den offenen Schlagabtausch. Dabei war es bis dahin die Stärke der Mannschaft gewesen, sich geduldig den Gegner zurechtzulegen und gegebenenfalls zuzulegen, wenn es der Spielstand erforderte.
Stattdessen schlug Liverpool mit der Unterstützung der Fans ein kaum über das ganze Spiel durchzuhaltendes Tempo an. Entsprechend war der Verlauf des Rückspiels nahezu eine Kopie des Hinspiels, einfach mit vertauschten Rollen: Statt PSG dominierte diesmal Liverpool, die Engländer vergaben überhastet diverse Torchancen – und wurden dafür gnadenlos ausgekontert. Ousmane Dembélé traf in der 12. Minute zum 1:0 für die Gäste. Das Ausscheiden in der Königsklasse fühle sich wie ein «Schock» an, räumte Slot später ein, dessen Team ungefährdet die Premier League anführt.
Am Scheitern hatte er mit seinem ungewohnten Powerplay-Fussball keinen unwesentlichen Anteil. Slot legte damit eine der wenigen Schwachstellen seines Aufgebots offen: die nicht höchsten Ansprüchen genügenden Reservisten. Liverpools Kaderplanung basiert auf einer Weltklasse-Startelf, aber die hinteren Reihen versucht man, mit eher kostengünstigen Lösungen aufzufüllen.
Als Slot den verletzten Rechtsverteidiger Trent Alexander-Arnold und den ermatteten Innenverteidiger Ibrahima Konaté vom Feld nehmen musste und der niederländische Coach weitere Wechsel vornahm, konnte Liverpool sein Niveau zunehmend nicht mehr halten. Unübersehbar wurde das in der Verlängerung und im Elfmeterschiessen: Einige der besten Schützen – Mac Allister, Szoboszlai, Alexander-Arnold – sassen ausgewechselt draussen. Anstelle von ihnen traten die neuen Núñez und Jones an. Sie verschossen.
In den vergangenen Spielrunden galten die Reds kräftemässig als unverwüstlich. Als sie nun gegen PSG zu leiden anfingen, entstand der Eindruck, der Zyklus für eine der erfolgreichsten Generationen des Klubs könnte sich dem Ende zuneigen. Beim Champions-League-Titel 2019 waren alle Startelf-Spieler jünger als 30 Jahre, die meisten von ihnen Mitte Zwanzig. Nun betrug der Liverpooler Altersdurchschnitt stattliche 27,9 Jahre. Der von Paris lag deutlich darunter (24,8 Jahre) und verringerte sich während des Matches (23,1).
Dieser Umstand dürfte die Liverpooler Klubführung beschäftigen, denn in den nächsten 15 Monaten laufen fünf Stammspieler-Verträge aus. Zu diesen gehören die nach wie vor nicht über diese Saison hinaus verlängerten Kontrakte mit dem Captain Virgil van Dijk (33 Jahre alt), Salah (32), und Alexander-Arnold (26).
Salah wäre in der Form seines Lebens
In der Regel drängen Fussballklubs darauf, mit ihren Leistungsträgern frühzeitig zu verlängern oder sie bei einer fehlenden Einigung zu verkaufen, um am Ende nicht unter Druck zu geraten. In Liverpool verhält es sich zurzeit eher umgekehrt – so, als würden die Spieler dringlicher ihre Arbeitspapiere verlängern wollen als der Verein.
Ein Grund dafür könnte sein, dass die Reds den Fehler des furios eingebrochenen Manchester City vermeiden möchten: Liverpools Dauerrivale beschäftigt neun Spieler, die älter als 30 Jahre sind und nicht mehr an ihr altes Niveau herankommen. Meist sind erfahrene Profis anfälliger für Verletzungen und stehen weiter oben im Lohngefüge.
Das Generationenduell zwischen Liverpool und PSG beweist, dass sich jüngere Spieler angesichts der enormen Spielintensität und der hohen Zahl an Pflichtspielen vermutlich leichter tun als Routiniers. Beispielhaft dafür ist der 22-jährige Pariser Linksverteidiger Nuno Mendes, der Salah neutralisierte. Mendes vereitelte auch Salahs beste Chance, indem der Portugiese dessen Schuss vor der Torlinie blockte. Es wäre Liverpools Führungstreffer gewesen.
Seit Jahren ist das verbleibende Karriereziel von Salah, einmal Weltfussballer zu werden. In dieser Saison schien der Ägypter dem Vorhaben so nah wie selten zu sein, weil er sich in der Form seines Lebens befindet. Doch um dieses zu verwirklichen, hätte er wohl mit Liverpool die Champions League gewinnen müssen.