Mittwoch, Oktober 2

Die Mitstreiter des umgekommenen Alexei Nawalny sind sich trotz zwielichtigen Quellen sicher: Hinter dem Attentat unter anderem auf Leonid Wolkow steckt nicht der Kreml, sondern ein russischer Regimegegner.

Jahrelang war Leonid Newslin die rechte Hand und ein enger Freund des einstigen russischen Erdölmagnaten Michail Chodorkowski. Jetzt ist er mit ungeheuerlichen Vorwürfen konfrontiert, die an die Methoden des Räuberkapitalismus der neunziger Jahre in Russland erinnern und Schockwellen durch die russische Exilopposition geschickt haben. Newslin soll – so berichten es die Mitstreiter des im Straflager umgekommenen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny und das Rechercheportal «The Insider» – Attentate auf führende Exponenten von Nawalnys Stiftung zur Bekämpfung der Korruption und deren Angehörige in Auftrag gegeben haben.

Newslin, der seit zwei Jahrzehnten in Israel lebt, in Russland in Abwesenheit zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt wurde und als Philanthrop bezeichnet wird, bestreitet die Aufsehen erregenden Anschuldigungen. Chodorkowski, heute eine wichtige Figur der Exilopposition, fühlt sich zu Unrecht in die Nähe der Newslin vorgeworfenen Verbrechen versetzt. Die Darstellung, die Nawalnys Stiftung, angeführt von Maria Pewtschich, in einem einstündigen Video akribisch, aber mit durchaus zwielichtiger Quellenbasis, zu beweisen versucht, setzt Russlands ohnehin zerstrittene Regimegegner einer Zerreissprobe aus.

Erster Verdacht erhärtet sich nicht

Ausgangspunkt ist der Anschlag auf Leonid Wolkow, einen der führenden Köpfe der Stiftung zur Bekämpfung der Korruption, im vergangenen März in Vilnius. Wolkow war mit einem Hammer übel zugerichtet worden, als er eines Abends mit dem Auto zu seinem Haus am Rande der litauischen Hauptstadt zurückkehrte. Mit schweren Arm- und Beinverletzungen musste er sich in Spitalpflege begeben.

Der Überfall, nur einen Monat nach Nawalnys bis heute nicht aufgeklärtem Tod im Straflager am Polarkreis, erschütterte das Gefühl der russischen Exilopposition, ausserhalb Russlands einigermassen in Sicherheit zu sein. Kaum jemand zweifelte daran, dass einer der russischen Geheimdienste hinter dem perfiden Attentat stecken dürfte. Diese Vermutung blieb auch bestehen, nachdem in Polen zwei Hooligans festgenommen worden waren, die diesen Anschlag ausgeführt haben sollen.

Zur Überraschung und zum Schrecken Wolkows, Pewtschichs und überhaupt eines Grossteils der Exilopposition führen die Spuren zu dem Attentat und weiteren Anschlägen auf Personen, die mit der Nawalny-Stiftung in Verbindung stehen, zu Newslin. Wie die Journalisten Roman Dobrochotow und Christo Grozev von «The Insider» mittlerweile vermuten, dürfte dies allerdings nicht ganz ohne Zutun des russischen Inlandgeheimdiensts FSB bekannt geworden sein. Darauf deutet auch der Umstand, dass der Propagandasender RT als erster Anfang September über die mutmassliche Verbindung Newslins mit den Attentaten berichtet hatte.

Zwielichtiger Informant mit wichtigen Quellen

Der Informant, der sich im Juli bei der Nawalny-Stifung gemeldet hatte, heisst Andrei Matus und ist eng mit dem FSB verstrickt. Wolkow und Iwan Schdanow, der Direktor der Stiftung, liessen sich darauf ein, Matus in Montenegro zu treffen, nachdem sie sich in langen Telefonaten von der Ernsthaftigkeit der überraschenden Beweise überzeugt hatten. Matus verfügt sowohl über umfangreiche Korrespondenz Newslins mit dem mutmasslichen Organisator der Attentate, einem ebenfalls zwielichtigen Mann namens Anatoli Blinow, als auch über Audio-Dateien und Videos, die die Anschläge dokumentieren und nur von den Attentätern selbst hatten aufgenommen werden können.

Matus wird als ein Mann beschrieben, der dank seinen vielseitigen Kontakten zu Geheimdiensten und anderen Behörden in Russland gegen Geld «Lösungen» für knifflige Probleme anbieten kann. Er erfüllte aber auch Aufträge für Chodorkowskis Rechercheplattform «Dossier». Als es nach dem Attentat auf Wolkow zum Streit zwischen Newslin und Blinow kam, weil Ersterer mit dem Erreichten nicht zufrieden war, und die vereinbarte Summe für den Anschlag nicht ausbezahlt wurde, sollte Matus den Beteiligten ihre Mobiltelefone mit der belastenden Korrespondenz abnehmen.

Das Material übergab Matus jedoch dem Nawalny-Team. Es stellte sich überdies heraus, dass dieselben Organisatoren auch für physische Angriffe 2023 auf Schdanow in Genf sowie auf Alexandra Petratschkowa, die Frau des mit der Nawalny-Stiftung verbundenen Ökonomen Maxim Mironow, in Buenos Aires verantwortlich sein dürften. Mironow hatte Newslin in den sozialen Netzwerken direkt angegriffen, so dass hier – im Unterschied zu den anderen Fällen – immerhin ein Motiv erkennbar ist.

Die Person, die in der Korrespondenz als Newslin figuriert, hatte Wolkow und Maria Pewtschich offenbar über längere Zeit überwachen lassen. Es gab mehrere Anläufe für Anschläge auf Wolkow. Ziel war es demnach, diesen zu kidnappen, nach Russland zu bringen und dem FSB auszuliefern. Alternativ dazu wurde auch erwogen, ihm so sehr zuzusetzen, dass er für den Rest des Lebens an den Rollstuhl gebunden sein würde.

Unbehagen unter manchen Regimekritikern

Die ungeheuerlich erscheinende Wendung, dass ein scharfer Regimekritiker wie Newslin hinter den Anschlägen stecken könnte, und der zwielichtige Informant haben dazu geführt, dass die Enthüllungen in manchen regimekritischen Kreisen mit Vorsicht aufgenommen wurden. Der liberale Kommentator und Gründer der Analyseplattform Re:Russia, Kirill Rogow, wollte nicht ausschliessen, dass die als Beweis dienende Korrespondenz zum Schaden Newslins manipuliert wurde.

Auf Unbehagen stiess auch, dass die Nawalny-Leute Chodorkowskis Nähe zu Newslin so sehr betonen, obwohl es keinen Beleg dafür gibt, dass Chodorkowski etwas mit diesen schwerwiegenden Vorwürfen zu tun hat. Umgekehrt fühlen sich die Nawalny-Leute und ihre Unterstützer angesichts der lebensbedrohlichen Vorgänge zu Unrecht dem Vorwurf ausgesetzt, sie trügen einmal mehr nur zu einem Streit in der Exilopposition bei.

Pewtschich, Wolkow, Schdanow und ihre Mitstreiter waren sich des schmalen Grats ihrer Vorwürfe von Anfang an bewusst. Sie haben die Glaubwürdigkeit von Anfang an thematisiert. So gelten die Videos, die die Anschläge aus erster Hand dokumentieren, als ein stichhaltiges Argument. Pewtschich verwies auch auf den Umfang und die Details in der Korrespondenz, die so kaum gefälscht worden sein könne. Klarheit über die Hintergründe dieser Vorwürfe können aber nur unabhängige, rechtsstaatliche Ermittlungen bringen. Beide Seiten haben sich an die Behörden Litauens gewandt.

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