Freitag, Oktober 4

Fünfeinhalb Jahre nach dem Unglück befindet ein Gericht in Zürich über die Frage der Schuld.

Der Flixbus-Chauffeur beantwortet keine Fragen. Fünfeinhalb Jahre nach der Todesfahrt auf dem Autobahnstummel der Sihlhochstrasse soll der 63-jährige ehemalige Busfahrer aus Italien vor dem Bezirksgericht in Zürich Rede und Antwort stehen. Über die Fahrt, über sein Verhalten, über seine Arbeit als Berufschauffeur und die schweren Vorwürfe gegen ihn.

Doch er erscheint nicht. Er hat vor der Verhandlung über seine Anwältin einen Antrag an das Gericht gestellt, um nicht nach Zürich reisen zu müssen. Denn auch Jahre nach der Tragödie, bei der zwei Menschen ihr Leben verloren, leidet er. Er leidet laut seiner Anwältin an Depressionen, hat Schlafstörungen und ist auf Psychopharmaka angewiesen.

Am Mittwoch hat das Bezirksgericht deshalb ohne den Angeklagten über die entscheidende Frage des Falls befinden müssen: Wer trägt die Schuld am tödlichen Flixbus-Unfall in der eiskalten Nacht des 16. Dezember 2018?

45 Minuten vor der Tragödie rufen Chauffeure bei Flixbus an

Die Fahrt beginnt am Abend des 15. Dezember 2018 in Genua. Die Reise soll durch die Schweiz bis nach Düsseldorf in Deutschland gehen. Die beiden Chauffeure wechseln sich in der Nacht beim Fahren ab. Die italienische Firma, für die sie arbeiten, fährt als Subunternehmen für Flixbus, Europas grösstes Busunternehmen.

Es ist das Prinzip Flixbus: Das Unternehmen betreibt kaum eigene Busse, aber es verdient an jeder Fahrt mit. Flixbus stellt die Marke und die Plattform, kümmert sich um die Buchungen und das Streckennetz. Die Fahrer sind bei Subunternehmen angestellt. Es ist ein ebenso erfolgreiches wie umstrittenes System.

Die beiden Chauffeure, die in der Nacht nach Zürich fahren, sind sehr erfahren. Der spätere Unfallfahrer lenkt seit 1982 Busse, er verfügt sogar über eine zusätzliche Ausbildung für Spezialtransporte von Gefahrengütern.

Je weiter der Car nach Norden kommt, desto unwirtlicher wird das Wetter. Auf den Strassen liegen gefrorener Schnee und Schneematsch, darunter Glatteis. Im Schneegestöber sieht der Fahrer kaum etwas. Er fühlt sich offenbar unter Druck, da er fürchtet, wegen der Verspätung seinen Job zu verlieren. So schilderte er es jedenfalls später gegenüber der Staatsanwaltschaft.

Einer der Fahrer ruft 45 Minuten vor der Tragödie bei Flixbus an. Er fragt, ob sie die Fahrt wegen des schlechten Wetters unterbrechen könnten. Doch aus der Zentrale kommt der Bescheid: weiterfahren. Allerdings heisst es auch, auf Verspätung müssten sie keine Rücksicht nehmen, der Fahrplan sei nicht massgebend.

Als das Unglück passiert, sitzt der ältere der beiden Fahrer am Steuer. Es ist kurz nach 4 Uhr.

«Hektisch und unüberlegt»

Was dann folgt, hat die Staatsanwaltschaft in einer mehrere Jahre dauernden Untersuchung rekonstruiert. Als sich der Chauffeur der zweispurigen Abfahrtsrampe von der Sihlhochstrasse nähert, erscheint ein Signal «Ende Autobahn». Doch er übersieht es. Weshalb, ist nicht klar. In der Anklageschrift schreibt die Staatsanwaltschaft, der Italiener sei entweder unaufmerksam gewesen oder habe sich zu stark darauf konzentrieren müssen, nicht die Kontrolle über sein Fahrzeug zu verlieren.

Die Verteidigerin wird dagegen bei der Verhandlung am Bezirksgericht in Zürich ausführen, der Busfahrer sei sehr aufmerksam gewesen. «Er wusste einfach nicht, wohin er fahren muss.» Auch das GPS habe an dieser Stelle keine Gabelung angezeigt. «Er dachte, die Strasse führe einfach weiter.»

Der Chauffeur ist zu diesem Zeitpunkt mit einer Geschwindigkeit von 68 km/h unterwegs. Kein einziges anderes Fahrzeug ist im Zeitraum kurz vor und nach dem Unfall schneller unterwegs als er. Am Ende der Sihlhochstrasse ist Tempo 60 erlaubt. In der Anklage heisst es jedoch, angesichts der schlechten Strassenverhältnisse wären zum Unfallzeitpunkt 30 km/h für einen Reisecar angemessen gewesen.

Laut dem Untersuchungsbericht bremst der Chauffeur erst 136 Meter vom Unfallort entfernt ein erstes Mal, allerdings nur kurz. Danach beschleunigt er nochmals – laut Anklage «hektisch und unüberlegt». Und erst knapp drei Sekunden vor dem Aufprall leitete er schliesslich eine Vollbremsung ein. Viel zu spät und «krass nicht den Verhältnissen angepasst», wie es in der Anklage heisst.

Es ist 4 Uhr 06, als der Car auf der schneebedeckten Fahrbahn ins Schleudern gerät und mit voller Wucht und einer Geschwindigkeit von 48 km/h in die Mauer des Autobahnstummels prallt.

Zwei Todesopfer, 43 Verletzte

Als der Bus schliesslich zum Stehen kommt, versuchen sich die Passagiere zu befreien. Einige schlagen mit Hämmern die Seitenfenster des Busses ein und klettern so aus dem Bus. Als im Bus der Geruch von Benzin wahrgenommen wird, bricht Hektik aus. Irgendwann gelingt es anderen Passagieren, die hintere Türe des Busses aufzuwuchten. Einige helfen, Verletzte ins Freie zu tragen.

Den eintreffenden Rettungskräften bietet sich ein Bild der Zerstörung. Beim Aufprall ist die gesamte Front des Busses eingedrückt worden. Die Folgen sind fatal: Eine 37-jährige Passagierin aus Italien fällt 15 Meter tief in die Sihl, wo sie bewusstlos wird und ertrinkt. Bis heute ist nicht restlos geklärt, ob sie aus dem Fahrzeug geschleudert wurde oder ob sie auf anderem Weg in den Fluss fiel.

Der neben dem Fahrer sitzende zweite Chauffeur wird beim Aufprall gegen die Windschutzscheibe geschleudert, beide Beine werden eingeklemmt.

Feuerwehrleute müssen den 61-Jährigen zuerst aus dem Bus befreien, bevor die Sanität ihn mit schwersten Verletzungen und massivem Blutverlusts in akut lebensbedrohlichem Zustand ins Universitätsspital fährt. Rund zwei Wochen kämpfen die Ärzte dort um sein Leben. Doch am 31. Dezember geben sie den Kampf auf, sie brechen die Therapie nach Rücksprache mit der Ehefrau des Chauffeurs ab. Er stirbt 15 Tage nach dem Unfall an einem Multiorganversagen. 43 weitere Passagiere werden nach dem Unfall mit Verletzungen in die umliegenden Spitäler gebracht – unter ihnen auch der Fahrer.

Unfall hätte verhindert werden können

Nach dem Unfall beginnen die Ermittler mit der Suche nach den Gründen für die Tragödie. Rasch gerät der überlebende Fahrer in den Fokus: Er wird verhaftet, Ende Dezember 2018 gegen eine Kaution aber wieder auf freien Fuss gesetzt.

Für den Staatsanwalt ist es ein klarer Fall, wie er beim Plädoyer am Mittwoch darlegt. Er fordert eine bedingte Freiheitsstrafe von zwei Jahren.

«Wäre er langsamer gefahren, wäre der Unfall nicht passiert. Er hätte den Tod der Passagierin und des zweiten Chauffeurs verhindern können», sagt der Staatsanwalt. Der Chauffeur sei mehr als doppelt so schnell unterwegs gewesen, als angesichts der Witterungsverhältnisse zulässig gewesen wäre. Der Mann habe einfach gehofft, dass es schon gut komme. Es sei kaum zu glauben, dass ein Berufschauffeur so fahre. Und der Staatsanwalt hält fest: «Nur 2 km/h mehr, und der Raser-Tatbestand wäre erfüllt gewesen.»

Und rhetorisch fragt der Staatsanwalt: «Konnte der Beschuldigte auf Sicht halten? Nein.» – «Fuhr er so, dass er jederzeit bremsen und anhalten konnte? Nein.» – «Fuhr er mit angepasster Geschwindigkeit? Nein.» Der Fahrer habe den Unfall verursacht und sei deshalb auch verantwortlich für die Unfallfolgen.

Extrem gefährliche Unfallstelle?

Die Verteidigerin des Chauffeurs fordert hingegen einen Freispruch vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung, der fahrlässigen Körperverletzung und der fahrlässigen groben Verletzung der Verkehrsregeln. Stattdessen sei der 63-jährige Italiener nur wegen fahrlässiger einfacher Verletzung der Verkehrsregeln schuldig zu sprechen und mit einer Busse zu bestrafen. Die Schuld des Fahrers sei als gering einzustufen, sagt die Anwältin.

Sie bezeichnet den Streckenabschnitt als extrem gefährlich. Der Autobahnstummel sei viel zu kurz, es habe zum damaligen Zeitpunkt weder eine ausreichende Signalisation noch reflektierende Schilder gegeben. Die durchgezogene Sicherheitslinie sei zudem wegen des Schnees nicht sichtbar gewesen. «Der Fahrer konnte nicht damit rechnen, dass die Autobahn abrupt in einem Stummel endet.»

Zudem sei es an der Stelle schon in früheren Jahren zu schweren Unfällen gekommen. Die Anwältin erwähnt einen Vorfall aus dem Jahr 2016. Damals geriet ein Lastwagenfahrer bei einem Ausweichmanöver auf den Autobahnstummel. Der Lastwagen durchbrach die Begrenzungsmauer und stürzte in die Tiefe. Der Fahrer zog sich schwere Verletzungen zu, überlebte aber.

Gericht folgt Antrag der Staatsanwaltschaft

Das Gericht folgt schliesslich dem Antrag des Staatsanwalts. Es spricht den 63-jährigen Fahrer wegen mehrfacher fahrlässiger Tötung, mehrfacher fahrlässiger Körperverletzung sowie grober Verletzung der Verkehrsregeln schuldig und bestraft ihn mit einer bedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren.

Der Richter sagt bei der Urteilseröffnung: «Wir mussten in einem tragischen Verkehrsunfall urteilen.» Der Fahrer sei viel schneller unterwegs gewesen, als die Strassenverhältnisse es zugelassen hätten. «Wäre der Chauffeur nicht so schnell unterwegs gewesen, dann hätte er vor einem Hindernis bremsen können.» Dem Fahrer seien die schlechten Verhältnisse bewusst gewesen, schliesslich hätten er und der andere Chauffeur sich bei der Flixbus-Zentrale gemeldet und um einen Unterbruch der Fahrt gebeten.

Das Fazit des Richters: Der Chauffeur sei mit völlig unangemessener Geschwindigkeit gefahren, sein Verschulden wiege deshalb schwer.

Urteil DG 230087 vom 29. 5. 24, noch nicht rechtskräftig.

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