Wie im Kalten Krieg ist Russland eine Bedrohung. Wie damals streiten Amerikaner und Europäer um den richtigen Umgang mit Moskau, denn ihre strategischen Interessen sind unterschiedlich.

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Es war ein trauriger Tiefpunkt amerikanischer Staatskunst, als Trump und sein Vize Vance den ukrainischen Präsidenten so sehr bedrängten, dass dieser die Fassung verlor.

Dann dauerte es eine Weile, bis Selenski seine unbedachte Rechthaberei ad acta legte und Verständigungsbereitschaft signalisierte. Selenski war der richtige Mann, um Krieg zu führen. Aber ist er auch geeignet, um Frieden zu schliessen?

Die Testosteron-Show im Weissen Haus liess alle Beteiligten schlecht aussehen. Doch der Zusammenprall dreier übergrosser Egos ist das eine. Die strategischen Interessen der USA sind etwas anderes.

So zeichnete der Secretary of State Rubio in zwei Interviews mit CNN und «Breitbart» ein differenzierteres Bild der US-Aussenpolitik. Er insistierte, das Ziel bleibe ein rasches Kriegsende in der Ukraine. Die Europäer hätten keine bessere Alternative. Sie würden hoffen, dass Putin nach einem weiteren Kriegsjahr um Frieden bitte. «Das bedeutet ein weiteres Jahr des Tötens, des Sterbens und der Zerstörung, und das ist kein sehr überzeugender Plan.»

Will die EU wirklich einen Fehlschlag der Ukraine-Verhandlungen?

In den grossen Fragen sind sich die Verbündeten selten einig, was schon früher mit Untergangsrhetorik garniert wurde. Heute behauptet die EU-Aussenbeauftragte Kallas vollmundig, die freie Welt brauche einen neuen Anführer und das könne nur Europa sein. Ausserhalb der Brüsseler Blase überzeugt solcher EU-Hurrapatriotismus niemanden.

Das Ende der Nato, das Ende der transatlantischen Allianz: Man sollte das tiefer hängen – genauso wie das vorschnelle Triumphgeheul, die Verhandlungen seien gescheitert. Sie haben noch nicht einmal richtig begonnen. Doch mancher Europäer scheint den Fehlschlag von Trumps Ukraine-Diplomatie geradezu herbeizusehnen.

Es wirkt, als trügen Amerikaner und Europäer ihre Meinungsverschiedenheiten aus dem Kalten Krieg noch einmal aus, diesmal mit vertauschten Rollen.

In den siebziger Jahren begann in Washington der Wind zu drehen. Die Entspannungspolitik war plötzlich out. Die Europäer hielten das für ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Sie nannten Präsident Reagan, der bewusst auf Konfrontation mit der Sowjetunion setzte, einen Verrückten. Sie verglichen ihn mit Dr. Strangelove aus dem gleichnamigen Film, dem wahnsinnigen Wissenschafter, der mit der Atombombe spielt.

Jetzt sind es die Europäer, die für Härte gegenüber Moskau eintreten, während Washington die Verständigung sucht. Heute ist es Trump, den europäische Medien als «Mad King» titulieren – in Anlehnung an die Serie «Game of Thrones». Das europäische Verständnis für Amerika erschöpft sich offenbar in Hollywood-Klischees.

So taufrisch ist das Schauspiel des europäisch-amerikanischen Zwistes also nicht, und erneut stellt Moskau den Anlass dar. Damals wie heute ist Russland eine Bedrohung. Immer wieder tobt ein erbitterter Streit darüber, wie man mit der Bedrohung umgehen soll.

Die divergierenden Sichtweisen sind die Folge einer unterschiedlichen geopolitischen Lage. Im Kalten Krieg fürchteten die Europäer, dass ihr Kontinent zum Schlachtfeld eines begrenzten Atomkriegs wird. Das Management des Konflikts durch Entspannung schien daher lange das beste Rezept für Europa.

Die USA hingegen hatten vor allem die globale Auseinandersetzung mit Moskau im Blick – nicht nur in Europa, sondern auch in Afghanistan oder dem Nahen Osten. Und sie witterten je länger, je mehr die Chance, die Sowjetunion an allen Fronten endgültig niederzuringen.

Am Fluch der Geopolitik hat sich nichts geändert, an der Geografie auch nicht. Die Europäer konzentrieren sich auf Europa. Sie wissen, dass ein Triumph Putins in der Ukraine ihre Sicherheit unmittelbar gefährdet.

Die Administration Trump hingegen sieht erneut das Great Game. Im Fokus steht für sie China. Russland ist zweitrangig und nur so weit von Belang, als seine Abhängigkeit von Peking den chinesischen Erzrivalen noch stärker macht.

Aussenminister Rubio sagt es unverblümt: «Die Big Story des 21. Jahrhunderts ist das amerikanisch-chinesische Verhältnis. Wenn Russland dauerhaft zum Juniorpartner der Chinesen wird, stehen Amerika zwei Atommächte gegenüber.»

Beide Länder hätten grosse Atomarsenale und Streitkräfte. «Sie können ihre Macht weltweit zur Geltung bringen.» Rubio warnt vor «der Konfrontation mit China, hoffentlich nicht militärisch», und kritisiert, es fehle an Bewusstsein für die Gefahren. «In der Diplomatie ist die Reife und Vernunft verlorengegangen, um die Probleme zwischen Grossmächten zu managen und um einen Krieg zu verhindern.» Die Amerikaner sind die Tauben und die Europäer die Falken – was für eine verkehrte Welt.

Schon vor Trumps zweiter Amtszeit war klar, dass er in der Logik der Grossmächte denkt. Ihr Gleichgewicht ist ihm wichtiger als das Schicksal der Kleinen. Für die neue Regierung geht es in der Ukraine um einen Waffenstillstand und eine Lösung, die einen Zusammenstoss der Nuklearmächte verhindert. Das ist nicht schön, das ist sogar amoralisch, aber es ist Realpolitik.

Europa ist für Amerika weiterhin wichtig

Das Team Trump betrachtet die Ukraine durch das Prisma der Dreiecksbeziehung zwischen Washington, Peking und Moskau. Um dieses Verhältnis zu entkrampfen und zugleich den chinesischen Einfluss auf Russland zu verringern, ist Amerika zu Kompromissen in der Ukraine bereit.

Heute sind es die Europäer, die keine Entspannung wollen, weil die Bedrohung für sie steigt, je mehr Konzessionen Trump Putin in Osteuropa macht. Dieser geopolitische Grundkonflikt zwischen den transatlantischen Verbündeten lässt sich nicht auflösen.

Im Kalten Krieg schwenkten die Europäer schliesslich auf den amerikanischen Kurs ein. Sie unterstützten den Nato-Doppelbeschluss, obwohl die Stationierung von Pershing-Raketen zunächst die atomare Konfrontation in Europa verschärfte. Eine neue Generation um Gorbatschow begriff indes, dass die Sowjetunion das Wettrüsten nicht gewinnen würde.

Wie werden sich die Europäer diesmal verhalten?

An der Entschlossenheit Trumps sollte kein Zweifel mehr bestehen. Unübersehbar ist, dass seine Regierung realpolitische Konzepte aus den achtziger Jahren wiederbelebt. Carters Sicherheitsberater Brzezinski hatte Eurasien in den Mittelpunkt gerückt, also die gewaltige Landmasse von Europa über Russland bis nach China.

Zustimmend zitierte Brzezinski den britischen Geografen Mackinder, der Anfang des 20. Jahrhunderts Eurasien zum globalen «Herzland» erklärte: «Wer über das Herzland herrscht, kontrolliert die Weltinsel. Wer über die Weltinsel herrscht, kontrolliert die Welt.»

Der Sicherheitsberater schrieb, es sei für Amerika ausschlaggebend, wie es «Eurasien managt». Eurasien sei das Schachbrett, auf dem der Kampf um die Weltherrschaft ausgetragen werde.

Die neue US-Regierung verfolgt ihre eigene Version der Herzland-Theorie.

China und Russland sind in dieser Perspektive das eurasische Herzland, das auch im 21. Jahrhundert über das Schicksal der Welt entscheidet. In einer veränderten Konstellation allerdings, denn China hat längstens Russland als dominierende Macht abgelöst.

Putin mag seinen postsowjetischen Phantasien nachhängen und zu diesem Zweck die Ostukraine besetzen, weil er weiss, dass ohne die Kontrolle über die Ukraine Russland nie mehr ein Imperium sein wird. Doch das ändert nichts daran, dass Moskau nur noch Juniorpartner ist. Russland ist keine primäre Bedrohung für Amerika mehr. China hingegen wird von Jahr zu Jahr militärisch stärker.

Washington konzentriert sich daher auf Peking, lässt aber Moskau als Bauern in dem Schachspiel nicht ausser acht.

Die alte geopolitische Theorie hat eine besondere Pointe für die gegenwärtige Debatte. Mackinder schrieb vor über hundert Jahren: «Wer über Osteuropa herrscht, kontrolliert das Herzland.» Brzezinski notierte ebenfalls, dass Amerika einen bestimmenden Einfluss auf Europa ausüben müsse, um Eurasien zu dominieren.

Europa bleibt geopolitisch wichtig: gleichgültig, ob die Europäer zwei oder vier Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für Verteidigung aufwenden; gleichgültig auch, ob die Europäer inbrünstig genug ihren Kotau vor dem Kaiserthron in Washington machen.

Ob Trump sieht, dass er Europa braucht, um China in die Schranken zu weisen und Russland aus der Abhängigkeit von China herauszulösen?

Wenn sich die USA aus Europa zurückziehen, die Hilfe für die Ukraine einstellen und ihre in Polen oder Rumänien stationierten Truppen in die Heimat verlegen, dann schwächen sie sich selbst. Wenn Europa nicht den Interessengegensatz zu Amerika entschärft und die amerikanische Führung akzeptiert, dann verliert es. Diese einfachen Wahrheiten hatten es schon im Kalten Krieg schwer, und doch setzte sich am Ende die Vernunft durch. Das sollte heute auch möglich sein.

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