Donnerstag, Mai 8

Frankreichs Aussenminister Jean-Noël Barrot hat eine Mission: Er will den Bürgern erklären, warum sie sich nicht in Sicherheit wiegen sollten und das Land aufrüsten muss. Zu welchem Preis, sagt er nicht.

An einem milden Frühlingsnachmittag schreitet Jean-Noël Barrot durch den Hörsaal der Hochschule Sciences Po Dijon. Der französische Aussenminister wird gleich einen Vortrag über Russland, Europa, China und die Vereinigten Staaten halten: eine rund vierzigminütige Tour d’Horizon über die Stürme der Weltpolitik. Der Andrang ist gross. Auch auf den Treppenstufen sitzen junge Leute.

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Barrot, 41 Jahre alt, dunkler Anzug und Dreitagebart, lächelt in die Gesichter der Studenten. Die Welt, sagt er, sei aus dem Gleichgewicht geraten. Alte Gewissheiten hätten sich aufgelöst. Internationale Regeln würden missachtet. Nicht Pflanzenfresser, sondern Fleischfresser, doziert der Aussenminister, gäben in dieser Welt den Ton an: «Und wenn diese Fleischfresser sehen, dass sich jemand nicht schützt, was tun sie dann? Sie greifen an.»

Die Einschläge kommen näher

Es ist ein bemerkenswert beunruhigender Vortrag, und Barrot lässt keinen Zweifel, wen seine Zuhörer am meisten zu fürchten hätten. Vierzig Prozent des russischen Haushalts, rechnet er vor, flössen in den militärischen Bereich. Nur wenn Franzosen und Europäer in grossem Stil in ihre Streitkräfte investierten, werde man sich in Zukunft gegenüber einem kriegslüsternen Kreml behaupten können.

Dijon ist für Barrot die zweite Station auf einer Rundreise durch die französische Provinz. Der Aussenminister hatte kürzlich im «Figaro» angekündigt, seinen Landsleuten einen Einblick in die internationale Politik und die Arbeit seines Ministeriums zu geben. Doch in Wahrheit geht es Barrot vor allem darum, die Bevölkerung vom Aufrüsten zu überzeugen.

Seit dem angekündigten Rückzug der Amerikaner als Schutzmacht Europas gibt es für Frankreichs Führung kein wichtigeres Thema als die Stärkung der eigenen Verteidigungsfähigkeit. Den Anfang einer öffentlichen Mobilisierungskampagne machte der französische Präsident Emmanuel Macron, als er sich am 5. März in einer Rede an die Nation wandte. «Russland ist, während ich zu Ihnen spreche, zu einer Bedrohung für Frankreich und Europa geworden», sagte er.

Kurz darauf trommelten Abgeordnete des Präsidentenlagers überall im Land zu Diskussionsveranstaltungen. So wie in Mainvilliers im Loire-Tal, wo Mitte März 250 besorgte Bürger ihre Ängste vor einem neuen Krieg äussern durften. Ein Regierungssprecher kündigte an, noch vor dem Sommer ein Überlebenshandbuch für Krisen- oder Kriegsfälle an die Bürger zu verschicken. Und vergangene Woche beschwor Frankreichs Premierminister bei einer Rede über die öffentlichen Finanzen die «qualvolle neue Zeit», die dem Land Opfer abverlange.

In Dijon hält sich Jean-Noël Barrot bedeckt, welche Opfer das wohl sein könnten. «Wie kann man mit China oder den USA konkurrieren, wenn man am Sozialstaat festhält?», will ein Student von ihm wissen. Kurze Stille im Hörsaal. «Wir können unsere Souveränität, unsere Fähigkeit, über unser eigenes Schicksal zu entscheiden, nicht bewahren und gleichzeitig an den Gewohnheiten festhalten, die wir uns über lange Zeit angeeignet haben», sagt Barrot schliesslich, ohne auf die Frage einzugehen.

Am Ende, räsoniert der Aussenminister, gehe es aber nicht nur um die Notwendigkeit, militärisch aufzurüsten, sondern auch darum, ein «neues moralisches Bewusstsein» in der Bevölkerung zu verankern. «Wenn wir wollen, dass das Recht weiterhin über der Macht steht, müssen wir uns fragen, auf welchen Teil unseres Komforts wir zu verzichten bereit sind.»

Diplomatie, ganz bürgernah

Dass sich Frankreichs ranghöchster Diplomat überhaupt die Mühe macht, eine Art Bürgerdialog in der Provinz zu führen, ist ungewöhnlich. Französische Minister stehen nicht gerade für Volksnähe. Eher haftet ihnen der Ruf an, technokratisch, abgehoben und elitär zu sein. Er wolle mit allen Bürgern über die internationale Politik reden, sagte Barrot in einem Interview, weil sich die Weltlage «mit Wucht an den Tisch der Franzosen» dränge.

Allerdings blieb der Kontakt mit den sogenannten kleinen Leuten bisher noch aus. In Nantes, im Westen des Landes, wohin ihn seine Rundreise zuerst hinführte, debattierte er mit 80 Schülerinnen und Schülern eines Gymnasiums über den Krieg und wie man sich gegen ihn wappnet. In Dijon standen neben den Sciences-Po-Studenten Unternehmer, Gemeinderäte und sechs ausgewählte Leser einer Regionalzeitung auf dem Programm.

Barrot, selber ein Absolvent französischer Elitehochschulen, lehrte Finanzwissenschaft am Massachusetts Institute of Technology in den USA und an der École des hautes études commerciales in Paris, bevor ihn Macron 2022 zum Minister für Digitales ernannte. Der französisch-schweizerische Doppelbürger gilt als smarter, umgänglicher Kommunikator. Einer seiner Vorgänger, der frühere Aussenminister Jean-Marc Ayrault, attestiert ihm einen «massvollen, gelassenen Stil».

Diesen sollten in Dijon auch zwei Rentner, eine gebürtige Ukrainerin und zwei junge Männer kennenlernen. Sie sitzen auf Stühlen in einem Halbkreis in den Räumen von «Le Bien Public», als der Aussenminister eintritt. Die Regionalzeitung hat sie zu einer Gesprächsrunde mit Barrot eingeladen, nachdem jeder zuvor eine, wie es heisst, ausreichend geistreiche Frage an die Redaktion geschickt hatte.

Mit dem Rücken zur Wand

Es sind Fragen über das transatlantische Verhältnis, Donald Trumps Strafzölle, die diplomatische Krise mit Algerien, zur Lage in der Türkei oder in Haiti. Barrot gibt höflich zu jedem Punkt Auskunft. Es entsteht der Eindruck, als würden diese Bürger sich sehr wohl um das Weltgeschehen sorgen. Doch niemand fragt nach sozialen Kürzungen oder Steuererhöhungen, um die geplante Aufrüstung finanzieren zu können.

Womöglich spiegelt das sogar die Stimmung in der Gesellschaft wider. Die Franzosen seien dafür, dass mehr Geld in die Streitkräfte fliesse, sagen die Meinungsforscher. Nur sei fraglich, ob sie auch bereit seien, dafür selber Opfer zu bringen. Der Staat hat kaum noch Spielraum: Mit einem Schuldenberg von 3,2 Billionen Euro und einem Staatsdefizit von annähernd 6 Prozent steht Frankreich mit dem Rücken zur Wand. Macrons Plan, die Militärausgaben von heute 2 Prozent auf mindestens 3,5 Prozent des Bruttoinlandproduktes zu bringen, dürfte deswegen kaum ohne soziale Einschnitte funktionieren.

Eine Idee zur Waffenbeschaffung brachte unlängst der französische Wirtschaftsminister Éric Lombard ins Spiel: Er schlug vor, den Bürgern eine militärische «Volksanleihe» anzubieten – einen Fonds, in den Privatpersonen mindestens 500 Euro einzahlen könnten, um so die heimische Rüstungsindustrie zu unterstützen. Das Geld, so Lombard, bliebe fünf Jahre gebunden, aber mit der Aussicht, dass Frankreichs Aufrüstung ohnehin langfristig angelegt sei, sei es in jedem Fall eine «lukrative Anlage».

Auch Barrot unterstützt die Idee der Volksanleihe ausdrücklich, wie er im Interview mit dem «Figaro» sagte. Sie sei eine Möglichkeit, die Franzosen an einem «nationalen Kraftakt» zu beteiligen – ein finanzieller Beitrag, der dazu diene, das Bewusstsein für die neue sicherheitspolitische Lage zu schärfen. In Dijon verliert er darüber kein Wort. Aber seine Tour durch die Republik, die er als «réarmement des esprits» versteht, hat ja auch gerade erst begonnen.

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