Sonntag, September 29

Israelkritische Positionen kommen in der Westschweizer Berichterstattung deutlich häufiger vor. Zufall ist das nicht.

Vor zwei Monaten durfte Jean Ziegler wieder einmal auf die Titelseite von «L’Illustré», dem Westschweizer Pendant der «Schweizer Illustrierten». Anlässlich seines 90. Geburtstags legte der Berufsrevolutionär und Bestsellerautor seine Sicht auf den Lauf der Zeit («Ich glaube an die Wiederauferstehung»), die #MeToo-Bewegung und natürlich den Gaza-Krieg dar.

Überraschende Aussagen machte er im Interview nicht. Bemerkenswert war vielmehr das Vorwort, mit dem es eingeleitet wurde. In Bezug auf den Krieg in Nahost schrieb die Chefredaktorin vom «seit sechs Monaten andauernden Massaker» und vom «Horror», der vor unseren Augen passiere. Man müsse Ziegler dankbar sein, dass er noch «den Schwung und den Mut» habe, sich dagegen aufzulehnen.

Dass eine grosse Deutschschweizer Publikation von einem «Massaker» an der palästinensischen Zivilbevölkerung spricht, ohne die Greueltaten der Hamas zu erwähnen, ist schwer vorstellbar. Seit Monaten schon geht bei der Beurteilung des 7. Oktobers und der darauffolgenden Ereignisse ein Graben durchs Land – auf Ebene der Bevölkerungen, aber auch der Medien.

«Urbanismus durch Bombardements»

Beispiele dafür gibt es zuhauf. Als mehrere Staaten nach massiven Vorwürfen ihre Zahlungen ans Palästinenserhilfswerk UNRWA aussetzten, kommentierte «Le Temps» den Schritt als «unverständlich» und – in Anlehnung an die von Israel kolportierte Beteiligung von UNRWA-Mitarbeitern an den Massakern vom 7. Oktober – als «echten Skandal».

Im Genfer «Courrier», der letzten explizit linken Tageszeitung der Schweiz, bezeichnete ein EPFL-Soziologe den Gaza-Krieg als «Urbanismus durch Bombardements». Mittels Krieg eine Stadt auszulöschen, sei das «effizienteste Mittel», um danach von Emiraten finanzierte Einkaufstempel oder Fussballstadien hinzustellen, schrieb er im April in einem Gastbeitrag – frei von Ironie.

Besonders stark zeigte sich der mediale Röstigraben bei der Beurteilung der propalästinensischen Proteste an verschiedenen Universitäten des Landes. Im Westen – wo die Kundgebungen begonnen haben – war das Verständnis dafür deutlich grösser, besonders in den ersten Tagen. Auch die Behörden reagierten unterschiedlich: Während sie in Genf und Lausanne die Aktivisten lange gewähren liessen, schritt die Polizei in Deutschschweizer Unis schneller ein.

Manchmal versteckt sich die journalistische Gesinnung in scheinbar vernachlässigbaren Details: So berichtete die Freiburger «La Liberté» nach der Besetzung der dortigen Universität, die Studenten forderten vom Rektorat, den Genozid in Gaza zu verurteilen. Anführungszeichen hielt der Journalist offenbar nicht für nötig.

Redaktionen ringen mit sich

Es gibt naturgemäss nicht die Befindlichkeit einer Region, und schon gar nicht diejenige eines Landesteils. Zudem widerspiegelt ein Medium nicht unbedingt die vor Ort herrschende Mehrheitsmeinung – und man findet auch innerhalb der gleichen Publikation immer wieder unterschiedliche Positionsbezüge.

So ist «Le Temps» – die einzige welsche Tageszeitung mit überregionalem Anspruch – keinesfalls auf propalästinensischen Einheitsbrei getrimmt. Als Leser spürt man teilweise richtiggehend, dass es innerhalb der Redaktion verschiedene Meinungen gibt. «Vergessen wir das Massaker an unschuldigen Israeli nicht», lautete etwa der Titel eines Kommentars zwei Monate nach Beginn des Krieges.

Dennoch ist die Westschweizer Berichterstattung grundsätzlich israelkritischer – was durchaus die Stimmungslage in der Bevölkerung reflektiert. Zuverlässige Hinweise darauf gibt die Befragung, die das Institut Sotomo letzten November im Auftrag des «Blicks» durchgeführt hat.

Die repräsentativen Ergebnisse zeigen, dass israelkritische Positionen in der Romandie deutlich mehr Rückhalt haben. Auf die Frage «Wer ist aus Ihrer Sicht verantwortlich für den aktuellen Krieg in Nahost?» sagten in der Westschweiz «nur» 29 Prozent der Befragten: «klar oder eher die palästinensische Seite». In der Deutschschweiz waren es 43 Prozent.

Für die Romands dürften die bereits jetzt palästinafreundlicheren Kommentare und Berichte zudem durchaus noch etwas prägnanter daherkommen. 34 Prozent der Befragten sagten, dass sie die Berichterstattung insgesamt als zu wenig kritisch gegenüber Israel empfänden. In der Deutschschweiz gaben 31 Prozent diese Antwort, obwohl «ihre» Medien das israelische Narrativ im Vergleich zur Westschweiz weniger stark infrage stellen.

Des Nachbars Nähe

Die Umfrage ist über ein halbes Jahr alt. Der Gaza-Krieg hat sich seither ausgeweitet, und die Kritik daran hat zugenommen, weltweit. An den unterschiedlichen Grundstimmungen zwischen Deutsch- und Westschweiz hat sich aber nichts Wesentliches geändert. Worauf ist das zurückzuführen?

Wir mögen es uns nicht so richtig eingestehen: Aber selbstverständlich beeinflussen die jeweiligen grossen Nachbarländer einen Landesteil kulturell und politisch. Die historische Schuld Deutschlands, verbunden mit der fast bedingungslosen Unterstützung des israelischen Staates, wirkt auch auf die Deutschschweiz. Israel das Existenzrecht abzusprechen, ist eine Position, die in Genf oder in der Waadt häufiger zu vernehmen ist – wenn auch dort nur selten.

Die Romandie ist, obwohl sie sich – genau wie die Deutschschweiz – niemals dem grossen Nachbarn würde anschliessen wollen, naturgemäss stärker von Frankreich beeinflusst. Präsident Emmanuel Macron mag die Hamas und ihre Taten noch so entschlossen verurteilt haben, in der französischen Bevölkerung sind propalästinensische Voten salonfähiger – geprägt auch von der stark muslimischen Zuwanderung der vergangenen Jahrzehnte. Selbiges gilt für die Romandie, die einen höheren Anteil an Migranten aus dem Maghreb oder aus Subsahara-Afrika und dafür weniger aus dem Balkan oder der Türkei aufweist.

Palästina-Flagge am autonomen Zentrum

Auch politisch ticken die Landesteile unterschiedlich, wie sich bei fast jeder Abstimmung feststellen lässt. Die Linke ist in der Westschweiz deutlich stärker. In Bezug auf den Nahostkonflikt ist das von Bedeutung, ist in linken Parteien die Kritik am israelischen Staat doch verbreiteter. Sieht man derzeit Palästina-Flaggen im öffentlichen Raum, hängen sie oftmals an Fenstern von Personen mit persönlichem Bezug zur Region – oder an Fassaden von autonomen Kulturzentren, die sich am äussersten linken Rand des Spektrums ansiedeln.

Offen ist, wie stark die gesellschaftliche Zusammensetzung die öffentliche Meinung beeinflusst. In absoluten Zahlen lebt die grösste jüdische Gemeinschaft der Schweiz in Zürich. Im Verhältnis zur Restbevölkerung ist diejenige in Genf zahlreicher – doch dort ist sie im öffentlichen Raum weniger sichtbar.

Noch dauert der Gaza-Krieg an, noch lassen sich fast täglich Beispiele dafür finden, wie die Berichterstattungen darüber zwischen den Landesteilen divergieren. Es wäre illusorisch, zu glauben, dass der mediale Röstigraben mit dem eines Tages erfolgten Ende des Konflikts zugeschüttet wäre – aber er dürfte dannzumal nicht mehr gleich ausgeprägt sein.

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