Montag, Oktober 7

Ein Jahr ist seit den schrecklichen Terrorattacken der Hamas vergangen. Sie haben den alten Streit darüber, wer im Nahen Osten Täter und wer Opfer ist, noch verschärft. Vor allem Linksradikale gefährden den politischen und religiösen Frieden.

Der Flyer unter dem Titel «Palästinawoche» ist dicht beschrieben. In einer Passage heisst es: «Will sich das palästinensische Volk vom Joch der kolonialen Unterdrückung befreien, so muss es deren Instrument, d. i. das zionistische Staatsgebilde, vernichten und einen eigenen Staat aufbauen.» Und ein paar Passagen später: Das Unrecht, das dem palästinensischen Volk durch die «zionistische Kolonisierung» angetan werde, werde immer klarer sichtbar.

Der Zettel stammt von 1974. Bei der grossen Pro-Palästina-Demonstration am Samstag in Basel tönte es bei einigen Linksextremen allerdings sehr ähnlich – bloss dass sie die Auslöschung Israels mittlerweile verklausuliert fordern, versteckt hinter dem Slogan «From the river to the sea, Palestine will be free».

Der Flyer belegt es: Der Streit um den kleinen Flecken Land in der Levante erhitzt die Gemüter seit über fünfzig Jahren wie kein anderer Konflikt – auch in der Schweiz. Die Argumentationslinien haben sich dabei kaum verändert. Doch die furchtbaren Terrorattacken der Hamas vom 7. Oktober und die dadurch provozierte Militäraktion von Israel im Gazastreifen haben auch in der Schweiz tiefe Spuren hinterlassen: So gespalten wie heute war die hiesige Gesellschaft in der Palästina-Frage wohl noch nie.

Erinnerung an den 7. Oktober verblasst

In einer Umfrage aus dem letzten November gab es drei Gruppen: 40 Prozent der befragten Schweizerinnen und Schweizer sahen die Verantwortung für die jüngste Eskalation bei den Palästinensern, 33 Prozent bei den Israeli, 27 Prozent bei beiden. Die Zahlen dürften sich mittlerweile zuungunsten Israels verschoben haben: Der Krieg in Gaza dauert schon bald ein Jahr, jetzt kommt auch noch der Einsatz der israelischen Armee gegen den Hizbullah in Libanon dazu – dahinter verblasst die Erinnerung an das Massaker vom 7. Oktober.

Der Ukraine-Krieg polarisiert deutlich weniger. Für die allermeisten Leute ist offensichtlich, dass Putin der Aggressor ist und die Ukraine das Opfer. Beim Palästina-Konflikt hingegen gibt es nicht nur eine Bruchlinie, sondern diverse. Schweizer Muslime und Juden tun sich schwer, ihre unterschiedlichen Loyalitäten zu verbergen. Linksextreme schiessen gegen Israel und stossen damit die Juden ebenfalls ab – mögen sie noch so oft betonen, wie sehr sie Antisemitismus verurteilen.

Selbst innerhalb der gemässigten Linken sorgt der Gaza-Krieg für schwer überbrückbare Differenzen. Die jüdische Historikerin Hannah Einhaus kehrte der SP den Rücken und begründete dies in einem öffentlichen Brief damit, dass die Linke bei Gewalt an Jüdinnen und Juden wegschaue. «Als Feministin dreht es mir den Magen um, wie Gewalt an Frauen und Mädchen in unseren Reihen seit dem 7. Oktober ignoriert oder gar geleugnet wird, sobald die Opfer als Jüdinnen wahrgenommen werden.»

SP dominiert von Palästina-Freunden

In der SP, die einst euphorisch auf die Staatsgründung Israels reagierte und diese positive Grundhaltung noch lange nach dem Sechstagekrieg 1967 beibehielt, dominieren nun offenbar die Palästina-Freunde wie Carlo Sommaruga oder Fabian Molina. Von jenen, die es anders sehen, ist zumindest kaum etwas zu hören.

Bezeichnend ist, dass die SP der Stadt Zürich sich weigerte, das Kulturzentrum Rote Fabrik zu verurteilen, nachdem dort T-Shirts gedruckt worden waren mit der Aufschrift: «There Is Only One Solution – Intifada Revolution». Und geradezu zynisch ist es, wenn eine einstige Zürcher SP-Kantonsrätin in einem Blog schreibt, für sie sei der Terrorangriff «eine Kampfhandlung unter anderen. Verabscheuungswürdig, aber letztlich verständlich.»

Und auch in der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz gibt es – natürlich – verschiedene Meinungen zum Gaza-Krieg. Eine Fraktion unterstützt voll und ganz die Regierung und findet, die Offensive in Gaza müsse fortgeführt werden, bis die Hamas keine Gefahr mehr sei und die Geiseln befreit seien.

Eine andere Fraktion sieht die Politik Netanyahus schon lange kritisch und fordert einen humanitären Waffenstillstand sowie Verhandlungen zur Freilassung der Geiseln. Zu Recht bereitet es diesen Juden Sorge, dass manche Kabinettsmitglieder der israelischen Regierung davon träumen, den Gazastreifen ethnisch zu säubern und das Gebiet jüdischen Siedlern zu überlassen.

Ein toxisches Thema

Der Gaza-Konflikt ist in manchen Freundeskreisen und Familien zu einem toxischen Thema geworden, das man besser meidet. Dass der kleinste Anlass zu einem hochemotionalen Streit führen kann, hat der Schweizer Karikaturist Patrick Chappatte in einer Zeichnung schön illustriert: Während sich im Wohnzimmer die Gäste an die Gurgel gehen, kippt eine Frau in der Küche entnervt ein Glas Wein, und ein Mann hält ihr vor: «Wir sagten doch, dass wir nicht über Gaza sprechen – und du bringst Hummus mit!»

Damit die Debatte über den hochkomplexen Nahostkonflikt nicht komplett entgleist, braucht es grösstmögliche Differenzierung. Leider passiert derzeit auch in gewissen akademischen Kreisen das Gegenteil, wie auch der Islamwissenschafter Reinhard Schulze beklagt: Es werde entdifferenziert und moralisch geurteilt.

«Es wird eine palästinensische Persönlichkeit geschaffen, die von einem angeblich homogenen Israel unterdrückt wird», analysierte Schulze in einem Gespräch mit der NZZ. Diese Reduktion, diese Schaffung von Volkskörpern sei ein ursprünglich sehr rechtes politisches Konzept. «Dass so etwas von Linken im 21. Jahrhundert als Wissenschaft dargestellt wird, ist ein Grauen.»

Die Schuld beider Seiten

Wer mit einem soliden Geschichtswissen auf den Konflikt schaut, wird sich davor hüten, sich zu hundert Prozent auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Die Täter- und die Opferrollen sind keineswegs klar verteilt. Die Palästinenser haben viele Chancen für einen dauerhaften Frieden verpasst und immer wieder die Gewalt entfacht. Und die Israeli haben mit ihrer von religiösem Fundamentalismus getriebenen Siedlungspolitik im Westjordanland eine funktionierende Zweistaatenlösung praktisch verunmöglicht.

Neben Differenzierung braucht es vor allem Empathie und Menschlichkeit. Das heisst, dass die Freunde der Palästinenser anerkennen, wie traumatisch die Anschläge vom 7. Oktober für Israel, aber auch für die jüdischen Gemeinschaften in der Diaspora waren. Man kann es nicht oft genug betonen: Es war der schlimmste Pogrom seit dem Holocaust.

Empathie heisst aber auch, dass jene, die zu Israel stehen, sehen, wie gross das Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza ist. Man kann die Hamas verabscheuen – und trotzdem um getötete Kinder und andere Zivilisten trauern, die unschuldige «Kollateralopfer» dieses Konflikts geworden sind. Wer die Emotionen und Beweggründe seines Gegenübers versteht und achtet, kann auf eine Weise streiten, die nicht verletzt – auch wenn die Standpunkte diametral auseinanderliegen.

Antisemitismus-Alarm

Wichtig ist eine solche Debattenkultur, weil viel auf dem Spiel steht. Anders als etwa in Frankreich hält in der Schweiz der religiöse Frieden zwischen Juden und Muslimen bis anhin einigermassen. Doch es fehlt nicht an Alarmzeichen: Die Zahl der antisemitischen Vorfälle hat in den letzten zwölf Monaten stark zugenommen. Und es bleibt nicht bei Parolen: In Zürich wurde ein Jude fast ermordet, in Davos wurde ein Jude tätlich angegriffen.

So darf es nicht weitergehen. Es ist in der Schweiz nicht die proisraelische Seite, die die öffentliche Debatte vergiftet. Auch die offiziellen Vertreter der Muslime sind sehr um Mässigung bemüht. So war es ein starkes Zeichen, dass Önder Günes, Präsident des Verbandes FIDS, kurz nach der Messerattacke von Zürich zusammen mit Ralph Lewin auftrat, dem damaligen Präsidenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG). «Wir Muslime betrauern dieses Leid gemeinsam mit der jüdischen Gemeinschaft», sagte Günes.

Es sind Linksradikale, die immer wieder Öl ins Feuer giessen und, gewollt oder ungewollt, ein Klima schaffen, in dem sich manche muslimische oder nichtmuslimische Extremisten legitimiert fühlen, Juden anzugreifen. Damit entlarven sich diese Aktivisten, die angeblich für eine bessere Gesellschaft, für Frieden und Völkerverständigung kämpfen, als Heuchler.

Es spricht nichts dagegen, sich mit den Palästinensern zu solidarisieren und die Härte der israelischen Kriegsführung in Gaza zu kritisieren. Aber wer Israel vorwirft, in Gaza einen «Genozid» zu begehen, verdreht die Tatsachen auf groteske Weise. Es ist die Hamas, die ganz offen einen Völkermord anstrebt und nicht vor entsprechenden Mordattacken zurückschreckt.

Dass die Basler Pro-Palästina-Demonstration ausgerechnet zwei Tage vor dem Jahrestag der Attacke und einen Tag vor dem Gedenkanlass des SIG stattfand, ist ein gezielter Affront und verantwortungslos. Offensichtlich haben manche Gruppierungen in den letzten fünfzig Jahren nichts gelernt.

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