Freitag, November 29

Soll die Zürcher Stadtverwaltung eine inklusive Sprache verwenden? Ein Streitgespräch vor der Abstimmung am 24. November.

Die SVP-Kantonsrätin Susanne Brunner (links) findet, die Stadtverwaltung sollte nicht gendern. Die SP-Nationalrätin Min Li Marti hingegen befürwortet, wenn Behörden eine inklusive Sprache verwenden.

In der Stadt Zürich kommt es am 24. November zu einer Abstimmung, die schweizweit Beachtung finden dürfte: Die Stimmbevölkerung entscheidet darüber, ob die Stadtverwaltung den Genderstern verwenden soll oder nicht. Es ist die erste Volksabstimmung dieser Art.

Hintergrund ist das vom Stadtrat angepasste Sprachreglement, welches das Personal zum Gendern anhält. Die Genderstern-Initiative der SVP-Kantonsrätin Susanne Brunner verlangt nun, dass die Stadt in der behördlichen Kommunikation auf Sonderzeichen verzichtet und eine «klare, verständliche und lesbare Sprache» wählt.

Die Zürcher SP-Nationalrätin Min Li Marti und Mitbegründerin des Podcasts «Gender Troubles» hält dagegen: Die Stadt solle Minderheiten sprachlich sichtbar machen.

Liebe Gesprächsteilnehmer, willkommen zu diesem Interview. Frau Marti, fühlen Sie sich durch diese Anrede angesprochen?

Min Li Marti: Nein.

Wieso nicht?

Marti: Nicht nur mir geht es so. Es gibt viele Studien, die zeigen: Wird die männliche Form verwendet, stellt man sich beim Zuhören ausschliesslich Männer vor. Wenn ich von Ärzten spreche, stellen sich alle Leute männliche Ärzte vor. Eine solche Ansprache ist bei uns in der Schweiz im Gegensatz zu Deutschland ja auch nicht üblich. Selbst Christoph Blocher spricht von den «Frauen und Mannen».

Susanne Brunner: Das sehe ich ganz anders. Ich habe mich willkommen geheissen gefühlt. Wenn der Lehrer am Morgen sagt: «Heute Nachmittag haben alle Schüler frei», dann bleiben die Mädchen nicht sitzen. Das generische Maskulinum, das Sie verwendet haben, ist die inklusivste Form, die es gibt. Es ist einfach, elegant, und alle sind angesprochen.

Marti: Auch Sie sagen doch nicht: «Ich bin Kantonsrat», sondern: «Ich bin Kantonsrätin.»

Brunner: Nein, das tue ich eben nicht.

Marti: Sie haben es sich vielleicht antrainiert, weil die Anti-Gender-Sprache Ihr Thema ist. Aber hierzulande reden Frauen nicht von sich in der männlichen Form.

Bei der Abstimmung am 24. November in der Stadt Zürich geht es nicht um die weibliche oder die männliche Form, sondern um den Genderstern. Warum muss ihn die Stadt und ihre Behörden verwenden, Frau Marti?

Marti: Die Stadt hat den Anspruch und den Willen, alle Leute anzusprechen. Lange hat man das bei der Hälfte der Bevölkerung, den Frauen, nicht getan. Dann hat man dies verbessert. Und später hat man gesehen, dass nonbinäre Menschen mit dem alten Reglement nicht erfasst sind. Eine offene Stadt sollte aber alle ansprechen. Das ist die Idee hinter dem Reglement für die sprachliche Gleichstellung, das die Stadt vor zwei Jahren überarbeitet hat.

Sie sagen, die Stadt solle alle ansprechen. Im Alltag gendern aber nur wenige Leute. Das spricht doch gegen den Genderstern.

Marti: Sprache ist etwas Dynamisches. Und Veränderungen führen immer auch zu Widerständen. Ich kann das verstehen. Persönlich finde ich es eine Unsitte, Whatsapp-Nachrichten auf Schweizerdeutsch zu schreiben. Aber ich merke, ich bin da ein Dinosaurier, viele Junge machen das. Dagegen mache ich doch keine Initiative. Ein anderes Beispiel: Früher hätte man Sie, Frau Brunner, mit «Fräulein» angesprochen. Das ist heute nicht mehr denkbar, und ich finde das positiv.

Brunner: Sie reden vom natürlichen Sprachwandel. Die Gendersprache hingegen wird bewusst eingebracht, zum Beispiel von Instituten für Genderwissenschaften, von Hochschulen und jetzt vom Stadtrat von Zürich. Die Gendersprache wird mit Reglementen vorangetrieben. Aber wer soll bestimmen, wie wir reden und schreiben? Fachexperten, Hochschulen und staatliche Behörden? Oder soll die Sprachgemeinschaft, wir alle gemeinsam, die Sprache weiterentwickeln? Ich bin der Meinung, dass wir alle, die Sprachgemeinschaft, die Sprache weiterentwickeln sollen. Die rote Linie ist überschritten, wenn Behörden mit politischer Absicht in die Sprache eingreifen, wie das der Stadtrat mit dem Sprachreglement in der Stadtverwaltung getan hat.

Marti: Wir sollten die Diskussion um ein paar Grade herunterkühlen. Mir kommen diese Diskussionen sehr bekannt vor, ich war lange im Stadtparlament. Und wir führten diese Diskussion mit den identischen Argumenten schon vor zwanzig Jahren. Damals ging es aber um die sprachliche Gleichstellung von Mann und Frau. Diese ist heute weitgehend akzeptiert. Es ist nicht ein Behördendiktat, mit dem man die Bevölkerung umerziehen will. Vielmehr ändert sich die Gesellschaft und mit ihr die Sprache. Die Behörden reagieren darauf.

Und doch steht am Ende ein Entscheid quasi von oben – in diesem Fall durch den Stadtrat.

Marti: Das Diktat ist doch genau umgekehrt! Sie, Frau Brunner, Sie wollen mit Ihrer Initiative der Stadtverwaltung verbieten, den Genderstern zu benutzen.

Brunner: Wenn Stadtpräsidentin Corine Mauch an Stadtrat Daniel Leupi eine E-Mail mit Genderstern schreibt, stört mich das nicht. Es steht ihr frei, das zu tun. Aber es geht nicht, dass der Staat wie in diesem Fall hoheitlich eingreift. Seit 1996 gibt es das Reglement für die geschlechtergerechte Sprache in der Stadt Zürich. Es bestand absolut keine Not, den Genderstern einzuführen. Die Leute sollen so reden dürfen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, ohne den moralischen Zeigefinger der Stadt im Nacken. Der Stadtrat hat mit der Einführung des Sterns die Sprache politisiert. Er macht mit jedem Stern eine politisch-moralische Aussage.

Marti: Die Leute dürfen ja weiterhin reden, wie sie wollen. Man darf auch den Genderstern doof finden. Wir reden hier über ein internes Reglement zur Kommunikation. Muss man da wirklich eine Volksabstimmung bemühen und die Verfassung der Stadt Zürich verändern? Die Zürcherinnen und Zürcher, mit oder ohne Stern, haben doch viel grössere Sorgen, um die sich die Politik kümmern sollte.

Brunner: Mich ärgert, dass Sie das Thema so herunterspielen wollen. Ich erinnere daran, dass der Stadtrat den Genderstern mit der Änderung des Sprachreglements eingeführt hat. Dagegen kann man kein Referendum ergreifen, darum habe ich die Initiative lanciert.

Kim de l’Horizon oder Nemo fühlen sich mit Herr oder Frau eindeutig nicht angesprochen. Wie würden Sie Nemo begrüssen, Frau Brunner?

Brunner: Ganz normal, wie mir der Schnabel gewachsen ist.

Also mit Herr.

Brunner: Grüezi Nemo oder Grüezi Herr Nemo, ich weiss es nicht. Man kann ja nicht jede Person zuerst befragen: «Wie darf ich dich ansprechen?» Beim Genderstern muss man sich aber fragen: Hat der Stadtrat alle, die sich als Nonbinäre fühlen, befragt? Hat er die Frauen gefragt? Mit der Gendersprache verschwinden die Frauen aus der Sprache. Die Stadtpräsidentin hat das Sprachreglement so begründet: Wir wollen eine respektvolle Sprache. Heisst das im Umkehrschluss aber, dass unsere Mütter und Väter uns eine respektlose Sprache beigebracht haben? Und wir alle, die nicht gendern, gehen respektlos miteinander um? Natürlich nicht!

Marti: Wie man mit Leuten umgeht, die sich weder durch die weibliche noch die männliche Anrede angesprochen fühlen, haben Sie nicht beantwortet. Die Frage stellte sich vielleicht unseren Eltern nicht, aber heute ist das eine Realität. Der Genderstern ist ja keine Erfindung von Corine Mauch. Viele Grosskonzerne, Organisationen und andere Städte verwenden ihn.

Frau Marti, verschwindet die Frau aus der Sprache, wenn man gendert?

Marti: Nein. Sie verschwindet, wenn man das generische Maskulinum verwendet, wie es Susanne Brunner will. Dort gibt es nur Männer. Eine geschlechtergerechte Sprache hingegen macht alle sichtbar.

Tatsächlich begegnet einem der Genderstern heute in Stellenausschreibungen, Broschüren oder Werbeplakaten. Frau Brunner, geht der Stadtrat nicht einfach mit der Zeit?

Brunner: Es gibt ein paar grosse Unternehmen, die meinen, dem Zeitgeist zu folgen. Aber diese Unternehmen marschieren an ihren Kunden vorbei. Alle Umfragen zur Gendersprache zeigen, dass die Bevölkerung diese ablehnt, sowohl Männer als auch Frauen.

Marti: Wenn es nach Ihnen ginge, würden wir immer noch so sprechen wie im Spätmittelalter.

Brunner: Nein. Aber der Genderstern ist kein natürlicher Sprachwandel, er verunstaltet die deutsche Sprache und führt zu einer unklaren Behördenkommunikation. Wo es drauf ankommt – in Weisungen an den Gemeinderat, an die Stimmbürger oder in Rechtstexten –, da verzichtet der Stadtrat auf den Genderstern. Weil der Stadtrat selber zugibt, dass der Genderstern zu Unklarheiten führt. Frau Marti, finden Sie es denn richtig, dass die Stadt eine Sprache verwendet, die an den Schulen nicht gelehrt werden darf, weil sie grammatikalisch falsch ist? Zum Beispiel Bäuer*in: Was ist ein Bäuer? Oder Ärzt*in: Was ist ein Ärzt? Der Rat der deutschen Rechtschreibung lehnt den Genderstern ab.

Marti: Sie wehren sich gegen ein angebliches Sprachdiktat der Stadt Zürich. Aber Sie finden, es gebe eine moralische Sprachinstanz in Deutschland, die uns sagen muss, wie wir zu schreiben haben. Das ist ja auch ein wenig lächerlich.

Brunner: Bei diesem Rat sind sieben Länder Mitglied, auch die Schweiz. Es ist ein breit abgestütztes Gremium, kein Diktat aus Deutschland.

Frau Marti, konsequentes Gendern ist doch enorm anstrengend. Und wer einen Fehler macht, wird sofort kritisiert.

Marti: Nonbinäre Personen ohne Pronomen anzusprechen, mag zu Beginn schwierig erscheinen. Man macht Fehler dabei, das ist normal. Aber noch einmal: Niemand muss den Genderstern benutzen, jeder Mensch darf weiterhin so schreiben oder reden, wie er will. Behörden sollten aber in ihrer Kommunikation versuchen, möglichst inklusiv zu sein. Wie man persönlich oder literarisch schreibt, ist etwas völlig anderes. Mich dünkt, mit der Initiative wird gegen einen gesellschaftlichen Wandel angekämpft, der einem nicht passt. Aber er findet statt.

Stimmt das, Frau Brunner? Stellen Sie sich gegen den gesellschaftlichen Wandel?

Brunner: Nein. Es geht um die Sprache, die der Stadtrat zu einem politischen Instrument gemacht hat. Doch die Sprache gehört uns allen.

Als die Initiative im Stadtparlament debattiert wurde, lautete von links der Tenor: Wer den Genderstern ablehnt, lehnt nonbinäre Menschen grundsätzlich ab. Sehen Sie das auch so, Frau Marti?

Marti: Nein. Leute verzichten aus ganz unterschiedlichen Gründen auf den Genderstern, und das finde ich okay. Es geht darum, wie die Stadtverwaltung die Menschen ansprechen soll. Man kann den Genderstern ablehnen. Aber dann haben wir das Problem, dass eine Minderheit sprachlich nicht sichtbar gemacht wird.

Brunner: Inklusion geschieht nicht über die Sprache. So war es auch bei der Gleichstellung von Mann und Frau nicht. Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau haben wir nicht erreicht, indem wir angefangen haben, anders zu sprechen. Sondern einzig und allein, indem wir die Verfassung und Gesetze geändert haben.

Was sagen Sie dazu, Frau Marti?

Marti: Natürlich führt nicht eine einzige Massnahme allein zu einer Veränderung in der Gesellschaft. Aber der Fortschritt bei der Gleichstellung der Geschlechter – den die SVP übrigens immer bekämpft hat – wurde sicher nicht allein aufgrund von Gesetzen erreicht, der Fortschritt geht einher mit einem Wandel der Einstellungen und Menschen, die sich für ihre Rechte einsetzen.

Brunner: Wenn die Gleichstellung von Mann und Frau erreicht ist, warum sind dann viele Leute so empfindlich, wenn es um Sprache geht?

Marti: Es mag pedantisch wirken, wenn sich Aktivistinnen für eine andere Sprache einsetzen, und das kann abschrecken. Wir müssen wegkommen von Extremen, ich plädiere für eine konstruktive und pragmatische Richtung. Im Sprachreglement der Stadt ist dies gelungen, weil der Stadtrat sowohl den Genderstern als auch geschlechtsneutrale Formulierungen wie Lehrpersonen erlaubt.

Brunner: Ich beobachte, dass wir uns in der Gesellschaft immer weiter auseinanderbewegen. Mit der Gendersprache leistet der Stadtrat seinen Beitrag dazu. Nicht das Gemeinsame wird betont, sondern die Unterschiede.

Frau Marti, Gegner des Gendersterns argumentieren, dass dieser den Sprachfluss hemme und damit Menschen benachteilige, die Mühe mit Lesen hätten. Stört Sie das nicht?

Marti: Ich nehme dieses Argument ernst. Darum habe ich mich bemüht, herauszufinden, ob es eine Evidenz gibt dafür. Aber ich habe keine Studie gefunden, die das nachweist, und kenne auch keinen Verband von Betroffenen, die dies fordern. Darum scheint mir das Argument etwas vorgeschoben.

Brunner: Noch im Jahr 2017 hat der Stadtrat angekündigt, bei Behördentexten in Richtung Leichte Sprache zu gehen, um besser verstanden zu werden. Nun macht er mit dem Genderstern das Gegenteil. Offenbar ist dem Stadtrat eine politische Sprache wichtiger. Das ist bedenklich.

Marti: Haben Sie Organisationen, die sich für Menschen mit Leseschwächen einsetzen, gefragt, ob der Stern für sie ein Problem ist oder nicht? Kennen Sie Studien dazu?

Brunner: Ich glaube nicht, dass ich dazu eine Studie brauche. Dieser Sachverhalt ist offensichtlich.

Frau Brunner, nehmen wir für einen Moment an, Ihre Initiative scheitert an der Urne: Fangen Sie dann an zu gendern?

Brunner: Selbstverständlich nicht. Ich bin zuversichtlich. Es ist die erste und einzige Abstimmung über Gendersprache im deutschen Sprachraum. Diejenigen, die am 24. November an die Urne gehen, setzen also nicht nur ein Zeichen für Zürich, sondern weit darüber hinaus.

Und Sie, Frau Marti, haken Sie das Thema Genderstern ab, wenn die Initiative angenommen wird?

Marti: Nein. Abstimmungen gewinnt oder verliert man, die Überzeugungen bleiben. Aber die Stadt Zürich müsste sich dann andere Wege überlegen, wie sie alle Menschen ansprechen kann.

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