Südafrikas Regierung kann einen Erfolg verbuchen, weil der Internationale Gerichtshof Israel ermahnt hat. Doch sie missbraucht das Recht in eklatanter Weise, solange sie die Hamas-Terroristen nicht ebenso scharf kritisiert.
Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte, dass Südafrika seine Klage gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof auf die Genozidkonvention stützt. Das dort definierte Verbrechen des Völkermords war eine Antwort auf den Schock über die industrielle Vernichtung der Juden durch die Nazis. Der Begriff geht zurück auf den polnischstämmigen Juristen Raphael Lemkin, der nach einer Bezeichnung suchte für solche Massaker, die sich gezielt gegen eine bestimmte Gruppe richtete.
Dass die Konvention 1948 ohne die Monstrosität des Holocausts verabschiedet worden wäre, ist nicht denkbar. Es ist quasi ein in Paragrafen gegossenes «nie wieder» – wie es auch die im gleichen Jahr erfolgte Gründung Israels als sicherer Hort für das jüdische Volk signalisieren sollte.
Für einen Genozid braucht es eine Vernichtungsabsicht
In all den Jahrzehnten seither wurde der Vorwurf des Völkermords oft erhoben und selten gerichtlich festgestellt. Das liegt an der Definition des Tatbestands: Die Konvention zählt neben der Tötung von Mitgliedern einer nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppe etwa auch die Verursachung schweren seelischen Schadens sowie weitere Tathandlungen auf. Erforderlich ist aber immer, dass sie mit dem Ziel geschehen, eine Gruppe ganz oder teilweise auszulöschen. Diese Vernichtungsabsicht ist das Wesensmerkmal des Völkermords. Der Nachweis ist enorm schwierig. Gerichtlich akzeptiert wurde er etwa beim Massaker von Srebrenica oder demjenigen an den Tutsi in Rwanda.
Die schwierige Beweisbarkeit und die gleichzeitige Assoziation mit einem so singulären Verbrechen wie dem Holocaust haben dazu geführt, dass der Genozid vor allem zu einem politischen Kampfbegriff geworden ist. Das zeigt die Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH): Die Regierung in Pretoria verlangte vorläufige Massnahmen, für die ihre Vorwürfe nur «plausibel» sein mussten. Juristisch betrachtet ist das keine besonders hohe Hürde. Israels vom Selbstverteidigungsrecht legitimierter Krieg im Gazastreifen fordert enorm viele zivile Opfer, und es ist ebenso unbestritten, dass er immenses seelisches Leid verursacht.
Die Frage ist allerdings, ob all dies mit dem Ziel geschieht, das palästinensische Volk auszulöschen. Pretoria führte verschiedene verstörende Aussagen israelischer Politiker an, die das belegen sollen. So inakzeptabel diese sind: Es gibt keine Hinweise darauf, dass die israelischen Entscheidungsträger wie Ministerpräsident Netanyahu und das Kriegskabinett diese Haltung teilen.
Aber ist es völlig ausgeschlossen? Kaum ein Jurist wird das ohne sorgfältige gerichtliche Prüfung bejahen wollen. Folgerichtig hat das Gericht Südafrikas unrealistischen Antrag auf einen Waffenstillstand zwar abgelehnt, aber Israel doch ermahnt sicherzustellen, dass es im Gazastreifen nicht zu völkermörderischen Akten kommt.
Wo ist der Aufschrei Südafrikas gegen die Hamas?
Letzteres wird in der Weltöffentlichkeit nachhallen, und Pretoria wird es als Erfolg werten. Die Heuchelei ist allerdings empörend. Wo etwa ist der Aufschrei Südafrikas gegen die genozidären Handlungen Russlands in der Ukraine? Und vor allem: Wo war er, als die Hamas am 7. Oktober Kinder als Geiseln verschleppte und Zivilisten massakrierte, weil sie Juden waren?
Anders als im Fall Israels muss man bei der Miliz die Absicht zur Vernichtung des jüdischen Volks nicht mit Aussagen besonders radikaler Exponenten zu belegen versuchen. Die Hamas hat sie in ihrer Gründungscharta explizit verankert. Vor dem IGH können die Terroristen zwar nicht zur Verantwortung gezogen werden, weil er nur für Staaten zuständig ist – sehr wohl aber vor dem Internationalen Strafgerichtshof.
Es ist unbestritten, dass die Situation im Gazastreifen katastrophal ist. Auch wenn Israel den Krieg rechtmässig führt, würde eine juristische Aufarbeitung wohl in einigen Fällen Verletzungen des humanitären Völkerrechts feststellen. Wer Israel des Genozids bezichtigen will, muss dafür gute Argumente finden. Wer jedoch nicht gleichzeitig erklärt, dass der Vorwurf gegen die Hamas viel naheliegender ist und schwerer wiegt, missbraucht das Recht in eklatanter Weise für politische Zwecke.