Freitag, April 25

Louis XIV machte Versailles zum kulturellen Mittelpunkt Europas. Das Bildprogramm des Schlossgartens ist Ausdruck eines politischen Programms. Eine Figur überstrahlt alles: Apollon auf dem Sonnenwagen.

Vier PS reichen aus, um Karriere zu machen. Natürlich nur, wenn man ein Gott ist, seinen Führerschein mit Bravour gemeistert hat und gerne früh aufsteht. Da thront er nun auf seinem Sitz, die Zügel kraftvoll in der Hand. Zu seinen Füssen blasen Tritonen mit dicken Backen in ihre Muschelhörner, als wollten sie den Weg freihupen. Der Wind bauscht seinen Umhang und wirbelt in die Mähnen der Rosse.

Wenn die Bussarde über Schloss Versailles zur Jagd aufbrechen, dann übernimmt Apollon mit seinem Gespann die Herrschaft. Es gilt die Sonne von Osten nach Westen zu chauffieren. Ohne sie gibt es kein Leben und keine Ordnung. Ohne sie versinkt die Welt im finstersten Schatten. Der Fahrer selbst war zuletzt schon recht ramponiert. 350 Jahre täglicher Sonnenlauf, das fährt in die Glieder.

Anderthalb Jahre lang haben Fachleute Hand angelegt, um der Bleifigur des Sonnengottes und seiner vier Pferde mit 35 000 Blattgoldfolien das goldene Leuchten zurückzugeben. Die 35 Tonnen schwere Skulpturengruppe, die sich aus einem grossen Bassin erhebt, ist nun wieder das Herzstück des Gartens, so wie es der Landschaftsarchitekt André Le Nôtre im 17. Jahrhundert geplant hatte. Apollon lenkt den Blick auf die «Grosse Perspektive» und setzt den zentralen Akzent auf der 1300 Meter langen Achse, die den Kanal ins Unendliche zu verlängern scheint.

Seit kurzem sprudeln die Wasserspiele wieder, und die in der Sonne glitzernden Fontänen vervielfachen die Strahlkraft des Gottes. Die hohen Spiegel der Galerie des Glaces fangen dieses Bild durch die Fenster auf. In Apollon spiegelt sich der König: Louis XIV, der von 1643 bis zu seinem Tod 1715 über 72 Jahre lang regierte, erkor den Gott des Lichts und der Künste zu seinem Herrschaftssymbol.

Der Mittelpunkt des Staates

Zu den Tugenden, die Apollon verkörpert, gehört das Masshalten. Kunstpatronage und Weisheit im Dienst der Macht sind seit der Renaissance Aufgaben eines Fürsten. Die politische Ordnung im Zeichen der Sonne ist ein Naturgesetz, unveränderlich, nicht anfechtbar. Louis XIV, von Gottes Gnaden König von Frankreich, machte daraus zusammen mit seinem Ersten Staatssekretär, Jean-Baptiste Colbert, ein stringentes Programm. Zwischen 1668 und 1671 liess der Monarch den Bildhauer Jean-Baptiste Tuby das Kunstwerk mit Apollon gestalten.

Zu dieser Zeit hatte er bereits zwanzig Jahre lang die Geschicke des Landes gelenkt. Es war Zeit für eine Entscheidung. Versailles, das Jagdschloss seines Vaters, das gerade zur grössten Palastanlage Europas umgebaut wurde, sollte von nun an das glänzende politische Zentrum sein. Die Desaster der brutal und teuer geführten Eroberungskriege in Europa und die erbarmungslose Verfolgung der Hugenotten lagen noch in der Ferne.

Mit heutigen Kategorien lässt sich der Regierungsstil eines Herrschers der frühen Neuzeit nicht so leicht erfassen. Der König war zwar nach Aussagen von Zeitgenossen bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr und einer entstellenden Kieferoperation ein gut aussehender Mann, hochgewachsen, als passionierter Reiter und Tänzer körperlich trainiert. Doch dass er einem Gott geähnelt haben könnte, hätte ihm schon damals niemand abgenommen. Mit den Entdeckungen von Galilei, Descartes, Hobbes, Locke und Newton hatte zudem ein nüchterneres Denken Boden gewonnen.

Der Kult um Apollon in Gemälden, Skulpturen, Balletten und festlichen Umzügen bediente andere Anforderungen. Die Sonne und Apollon sowie der Rückgriff auf das antike Rom erlaubten es, eine neue Ordnung und neue Werte zu installieren. Im Dienst des Staates, das war die Aussage der an der kosmischen Ordnung orientierten Bildwelt des Parks, war es notwendig, persönliche Impulse zu disziplinieren. Das galt auch für den Adel. Die unangefochten in der Mitte thronende Sonne zeigte, wer Mittelpunkt der politischen Ordnung war: der König.

Die lebenspendende Sonne

Mit dem Begriff «Ancien Régime» verbindet sich heute Rückständigkeit. Die Propaganda der Französischen Revolution und der Aufklärung hat vergessen lassen, dass Louis XIV sein nach grauenhaften Bürgerkriegen zerrissenes Land zusammen mit Colbert in die Moderne zu führen begann: Dazu gehörte der Aufbau von Manufakturen, die das Land von Importen unabhängig machen sollten. Zudem ein einheitliches Justizsystem für Straf- und Zivilrecht, ein Handelsgesetzbuch und Gesetze für die Verwaltung.

Man erneuerte das Steuersystem und konsolidierte die Staatsfinanzen. Der Adel verlor Privilegien und musste Abgaben zahlen. Die Devise war: ein König, ein Gesetz, ein Glaube, eine Sprache. Der König selbst funktionierte in diesem Universum so zuverlässig wie die lebenspendende Sonne.

Vom öffentlichen Aufstehen, dem «lever», bis zum «coucher», dem königlichen Sonnenuntergang im Schlafgemach, war jede Minute geregelt. Nach Louis XIV konnte man die Uhr stellen. Seine Auftritte zelebrierten eine rituelle Prachtentfaltung. Theater, Malerei, Musik, Literatur und Architektur, all die Künste Apollons gehörten zum Konzept seiner Repräsentation. Der französische Hof wurde zum Vorbild für die Fürstenhöfe in ganz Europa.

Versailles hebt sich aus dem europäischen Kulturerbe heraus, weil es bis heute ein politischer Ort ist. Gerade die Revolution trug viel dazu bei. Am 5. Oktober 1789 marschierten rund sechstausend hungernde Frauen von Paris aus ins Schloss. Die nachfolgenden Revolutionäre plünderten, verhökerten das Interieur und wüteten im Garten. Der Palast verfiel. Doch anders als die Monarchie blieb er stehen.

Sinnbild einer gemeinsamen Identität

Nicht zuletzt diese prägenden Ereignisse machen den Park von Schloss Versailles bis heute für viele Franzosen zum Sinnbild einer gemeinsamen Identität. Für die einen ist Versailles Ausdruck von der Grösse und dem Glanz Frankreichs, für die andern das Mahnmal eines «Nie wieder», für dritte ein kostbares Kulturgut. Es war ein kluger Schachzug des Bürgerkönigs Louis-Philippe, Versailles 1831 in ein Museum umzuwandeln: zum Ruhm Frankreichs, aber für das Volk zugänglich.

Von 1875 bis zur Rückkehr ins Palais Bourbon 1879 tagte die Nationalversammlung in Versailles. Heute noch dient der Kongresssaal als Schauplatz für besondere Sitzungen und für Ansprachen des Präsidenten. Frankreichs Staatsoberhäupter haben sich alle gern in der Sonne Versailles inszeniert. Auch Emmanuel Macron nutzt den mit Bedeutung so aufgeladenen Ort für seine politischen Botschaften.

Doch Versailles ist nicht nur das goldene Ei von Macrons Diplomatie. Die Staatsdomäne ist ein wichtiges Element der französischen Bildungspolitik. Jahr für Jahr finden im Schloss und im Park Veranstaltungen zu historischen Themen und zahlreiche kulturelle Events statt – für Lehrerinnen und Lehrer aus dem ganzen Land, für Schülerinnen und Schüler jeden Alters und für die örtliche Bevölkerung. Ein Forschungszentrum zieht Wissenschafter und Studenten an.

Das jüngste Projekt könnte über die Grenzen hinaus Modellcharakter haben: Mit «Campus Versailles» ist in der Grande Écurie, den von Louis XIV gebauten monumentalen Stallungen, ein Netzwerk der Exzellenz am Entstehen. Könner und Meisterinnen der verschiedensten Metiers, von Kunstrestaurierung bis zum Gartenbau, Fachleute von Kulturinstituten, Hochschulen und Unternehmen der Luxusgüterindustrie sollen hier zusammentreffen.

Grosse Pläne

«Campus Versailles» soll ein Forum sein, um nach neuen Wegen zu suchen, mit Kulturgütern umzugehen und denkmalpflegerische Herausforderungen zu lösen. Menschen aus allen Bereichen, die sich um die Pflege, Bewahrung und Vermittlung des kulturellen Erbes kümmern, sollen sich hier austauschen und Kontakte knüpfen. Dies soll mithelfen, den Glanz der königlichen Anlagen von Versailles zu bewahren.

Apollon, der seine goldenen Pferde mit frischer Energie antreibt, hat aber noch weitere grosse Pläne: Für die Olympischen Spiele wird zurzeit gerade die Étoile Royale, die Esplanade westlich des Grand Canal, umgestaltet. In drei Monaten sollen dort die Wettbewerbe im Reitsport stattfinden. Auch die Wettkämpfe im modernen Fünfkampf werden auf Schloss Versailles ausgetragen. Und entlang dem Grand Canal werden sich im Sommer die Mountainbikefahrer messen. Von weitem schaut Apollon zu, der Gott, der die Welt regiert.

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