Montag, Oktober 7

Noch bis Anfang September führen die meisten Züge ins Tessin über die alte Strecke. Dafür ergibt sich die Gelegenheit, das Urnerland zu erkunden – etwa mit einem Znacht in Flüelen.

So manche Zürcher haben zum Urnerland ein ähnliches Verhältnis wie zu Tunnels: Beides ist für sie zum Durchfahren da, am besten auf dem Weg in den Süden. Als Sarina Arnold aus Altdorf zum Topmodel aufstieg, staunten sie über so viel Weltläufigkeit, und sie bewundern Bernhard Russi aus Andermatt, wo sie vielleicht einmal das moderne Luxushotel aufsuchen. 2020 fackelten sie gar ihren Böögg in der Schöllenenschlucht ab, da das in ihrer Stadt gerade nicht erlaubt war. Aber sonst?

Vor elf Monaten fand das Schicksal einen Weg, Bahnreisenden die Augen für den Bergkanton mit seinen schroffen Felswelten zu öffnen: Da der Gotthardtunnel noch bis September reparaturbedürftig ist, verkehren die meisten Züge über die alte Route. Von Zürich nach Locarno ist der bronzefarbene Treno Gottardo der Südostbahn zu empfehlen: Er braucht nur wenige Minuten länger als zurzeit andere Verbindungen, verlangt kein Umsteigen, ist meist weniger voll – und bietet mehr Stationen, an denen man hinausspringen kann, zum Beispiel für ein Abendessen.

So machen wir es im 2300-Seelen-Hafenörtchen Flüelen, Steuerfuss 93 Prozent, Ausländeranteil 15 Prozent. Auf der einen Seite des Bahnhofs lockt der Vierwaldstättersee, auf der anderen das frühmittelalterliche Schloss Rudenz und dahinter die Dorfstrasse. An ihr reihen sich die Möglichkeiten zur Einkehr fast wie im Zürcher «Chreis Cheib», von der Pizzeria übers Chinarestaurant bis zum «Anker». Dieser ist unser Ziel. Ein junges, hochmotiviert wirkendes Team hat hier vor drei Jahren mitten in der Corona-Zeit angelegt, um das ehemalige «Grottino» zu beleben, dessen Name noch neben dem neuen an der Fassade prangt.

Als Blickfang der Aussenterrasse dient ein gemauerter Bogen, unter dem ein Tischchen für uns reserviert ist. Geboten wird keine spektakuläre Aus- oder gar Seesicht, und das ist der Qualität einer Küche oft zuträglich. Die Website verspricht regional verankerten «Geschmack ohne Schnickschnack», und das wird eingelöst.

Eine ungekünstelt freundliche junge Urnerin berät uns im Dialekt, der zu den urigsten und sympathischsten des Landes zählt, und bringt uns das Hahnenwasser im prächtigen Krug unentgeltlich (wir sind ja nicht in Zürich). Die später hinzukommende Gefährtin wird à la carte bestellen, ich wähle das Überraschungsmenu. Der Preis von 90 Franken für fünf Gänge ist fair, wobei er genau gleich ausfiele, wenn man die Gerichte einzeln von der Karte bestellen würde.

Aufs Amuse-Bouche – eine Miniversion des ungarischen Hefegebäcks Langosch mit Knoblauchsauce und geraffeltem Emmentaler – folgt ein schmackhaftes Carpaccio vom Schweinsbraten mit Rüebli-Würfeln, Äpfel-Stäbchen, eingelegten Bärlauchknospen und Croûtons.

Am langen Tisch mit Einheimischen ruft einer, Egon gebe eine Runde für alle aus. Grund unbekannt – vielleicht werde er ja nochmals Vater. Applaus, der Alkohol fliesst, der Zürcher Gast ist verständlicherweise nicht mitgemeint. Dieser macht sich zufrieden über den Pasta-Gang her, Trofie mit Räucherforelle an einer Rahmsauce, mit Eigelb schön gebunden und mit Salbei verfeinert; einzig die drei schaumigen Espuma-Klackse am Rand sind eine unnötige Konzession an die Trendgastronomie. Auch der Hauptgang im heiss vorgewärmten Teller überzeugt: Tranchen vom Rinds-Flanksteak mit Hacktätschli an Rotweinjus und Safranrisotto; die Begleiterin verschlingt währenddessen zarte Spareribs mit viel Fleisch am Knochen (Fr. 32.–).

Wir trinken feine Weine im Offenausschank, Barbera (Fr. 6.50) und Chianti (Fr. 7.–), während an der langen Tafel Hochprozentiges fliesst. Einer, dessen Body wie gebaut scheint für den über hundertjährigen Schwingklub Flüelen (nicht Swingerklub, liebe anglophil verdorbene Zürcher!), zündet sich eine Krumme an und stimmt mit dem ad hoc gebildeten Männerchörli hinter den Gläsern ein Jodellied an.

Was musikalisch akkurat beginnt, wird mit fortschreitender Stunde so disharmonisch, als gälte es ruhesuchende Städter in die Flucht zu schlagen. Doch da befinden sich diese ohnehin schon im kulinarischen Ausklang, einem Plättchen mit Urner Bergkäse und Birnenweggen, dann einer Crema Catalana und dem auch in der grossstädtischen Gastronomie allgegenwärtigen warmen Schoggichüechli mit Vanilleglace (Fr. 12.–).

Zum Abschied wird uns ein Gläschen vom «Seegeist» offeriert, dem hauseigenen Pfefferminzlikör. So schlendern wir zurück zum Bahnhof, beseelt halb von diesem Geist, halb von jenem des Urkantons, in dem wir gewiss nicht zum letzten Mal ausgestiegen sind.

Restaurant Anker
Dorfstrasse 5, 6454 Flüelen (UR)
Nur abends offen, Sonntag bis Dienstag geschlossen.
Telefon 041 871 30 30

Für diese Kolumne wird unangemeldet und anonym getestet und am Ende die Rechnung stets beglichen. Der Fokus liegt auf Lokalen in Zürich und der Region, mit gelegentlichen Abstechern in andere Landesteile.

Die Sammlung aller NZZ-Restaurantkritiken der letzten fünf Jahre finden Sie hier.

Exit mobile version