Donnerstag, November 28

Sven Simon / Imago

Er fuhr Ferrari, hatte eine Diskothek und schlug Pässe über das ganze Feld, dank denen er sich gegen prominente Konkurrenz durchsetzte. Das Bild, das um den Wahlzürcher Günter Netzer entstand, lud jedoch auch zu Fehldeutungen ein.

Unter den grossen deutschen Fussballern ist keiner schwieriger zu greifen als Günter Netzer. Das mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, denn Netzer ist ein prominenter Mann. Einer, der nicht nur als Fussballer Meriten errungen hat, sondern auch als TV-Analyst ein beliebter Mittler war. Und doch ist der Wahlzürcher, der am Samstag 80 Jahre alt wird, der grosse Mysteriöse des deutschen Fussballs geblieben.

Damals, in den siebziger Jahren, hatte er reichlich Konkurrenz: zum einen den genialischen Franz Beckenbauer, der so lange Everybody’s Darling war, bis ihn die Bestechungsaffäre um die WM 2006 aus der Gnade seiner Landsleute fallen liess. Und natürlich Wolfgang Overath aus Köln, mit dem er jahrelang um den Platz im Mittelfeld des Nationalteams stritt.

Widersacher waren sie allein auf dem Platz. Denn der Profi Netzer – und genau das hebt ihn von seinen Zeitgenossen auf dem Fussballrasen ab – war weit mehr als ein erfolgreicher Spielgestalter. Er war das Ziel vieler Projektionen. «Rebell am Ball» – so heisst eine frühe Netzer-Biografie. Der Titel gab bloss den allgemeinen Eindruck wieder. Wer sich indes genauer mit Netzer beschäftigt, der kommt bald auf die Idee, dass das Rebellentum weder Pose noch Movens war. Es war schlicht und ergreifend eine Zuschreibung. Netzer war klug genug, solche Etikettierungen unkommentiert zu lassen.

Als Boninsegna wie vom Blitz getroffen zu Boden fiel

Borussia Mönchengladbach: Das war der Verein Netzers, mit dem er Meisterschaften und Cup-Siege gefeiert hat, oft in einem rauschenden Stil, wie er in Europa fast einzigartig war. Der grosse Wurf, der Gewinn des Titels im Europacup der Landesmeister, blieb dem Klub verwehrt, in seinem Scheitern allerdings war er grossartig: 1971 demütigten die Gladbacher das grosse Inter Mailand mit einem 7:1 am heimischen Bökelberg. Doch der Match wurde annulliert, weil ein Zuschauer eine Cola-Dose aufs Spielfeld geworfen hatte und der Stürmer Roberto Boninsegna wie vom Blitz getroffen zu Boden fiel.

Einzig Ajax Amsterdam um den grossen Johan Cruyff spielte ähnlich spektakulär wie Gladbach. Der nationale Konkurrent, der FC Bayern, wirkte im Vergleich mit der Borussia berechnend-träge, woraus aufmerksame Deuter des Zeitgeistes ein Gegensatzpaar konstruierten.

Und so wurde Netzer zum Protagonisten für feuilletonistische Betrachtungen, die in einer bis heute stehenden Wendung mündeten: «Netzer kam aus der Tiefe des Raumes.» Dieser Satz ist eine Variante dessen, was Karl Heinz Bohrer, damals «FAZ»-Kulturkorrespondent in London, über Netzer notierte: «Der aus der Tiefe des Raumes plötzlich vorstossende Netzer hatte ‹thrill›. ‹Thrill›, das ist das Ergebnis, das nicht erwartete Manöver; das ist die Verwandlung von Geometrie in Energie, die vor Glück wahnsinnig machende Explosion im Strafraum, ‹thrill›, das ist die Vollstreckung schlechthin, der Anfang und das Ende.»

1972 im EM-Viertelfinal machte er sein bestes Länderspiel

Nun war Bohrer kein zweitklassiger Feuilletonist, sondern einer, der im Begriff war, zu einem der bedeutendsten deutschen Intellektuellen zu werden. Seine Netzer-Faszination speist sich aus dem 3:1-Sieg der Nationalmannschaft gegen England im EM-Viertelfinal 1972 in Wembley. Damals stiess Netzer tatsächlich aus der Tiefe des Raumes vor und machte sein bestes Länderspiel für Deutschland. Eines von nur 37, doch der Eindruck war prägend: Bohrers Zeilen standen am Anfang dessen, was in Deutschland später einmal Fussball-Feuilleton genannt wurde. Sie trugen zur endgültigen Verklärung des langmähnigen Spielmachers bei.

Im Jahr darauf folgte ein Auftritt, wie er bis heute nahezu einzigartig ist: Im Final des deutschen Cups wechselte sich Netzer in der Verlängerung gegen den 1. FC Köln selbst ein. Dabei stand der Nachmittag für Netzer unter negativen Vorzeichen: In der Woche zuvor war seine Mutter verstorben, zudem war bekanntgeworden, dass er vor einem Wechsel zu Real Madrid steht.

Ernst Huberty, ein brillanter TV-Kommentator, bevor er «Mister Sportschau» wurde, eröffnete seine Reportage damals mit einer Zusammenfassung der Gemengelage: «Die wichtigste Information sofort: Mönchengladbach spielt ohne Günter Netzer. Er sitzt auf der Reservebank mit der Nummer zwölf. Er passt nicht in unser Konzept, sagen die einen, die anderen: Er hat Trainingsrückstand. Die Dritten: Die jugendlichen Spieler, die Jungen sind gegen ihn. Manche meinen auch, er sei Geheimwaffe. Wir werden sehen.»

Die Fans waren gegen Netzer

So war es also bestellt damals, als Netzer dabei war, Mönchengladbach zu verlassen. Die Stimmung unter den Fans sei gegen Netzer gewesen, sagt Rainer Bonhof, in Gladbach wie in der Nationalmannschaft sein Mitspieler. Anders habe es allerdings in der Mannschaft ausgesehen: «Günter wollte eigentlich morgens nach Hause fahren, nachdem er erfahren hatte, dass er nicht in der Stammelf ist. Wir Spieler haben dann gesagt: ‹Wir brauchen dich, auch wenn du nur auf der Bank sitzt.›» Angesichts von 30 Grad im Düsseldorfer Rheinstadion war dies nur verständlich.

DFB-Pokalfinale 1973 | Borussia - 1. FC Köln | FohlenKlassiker

So kam es, dass der Trainer Hennes Weisweiler Netzer nach der ersten Halbzeit aufforderte, aufs Spielfeld zu gehen. Doch Netzer winkte ab: Eine Einwechslung jetzt brächte nichts.

Erst in der Verlängerung sah Netzer seinen Augenblick gekommen. Er fragte seinen Kollegen Chris Kulik, ob der noch weitermachen könne, Kulik verneinte. Also ging Netzer zu Weisweiler und sagte: «Ich spiel dann jetzt.» Aus seiner ersten Ballberührung ergab sich ein Doppelpass mit Bonhof. Und Netzer hämmerte den Ball direkt in den Winkel. Ein Wahnsinnstor, selbst für seine Verhältnisse. Später bekannte Netzer, dass er den Ball gar nicht richtig getroffen habe.

Kopfbälle mochte er nicht

Netzers Geste in seinem letzten Spiel für die Borussia: ein Aufbegehren gegen Autoritäten, wie es dem damaligen Zeitgeist entsprach? Bis heute prägt der Cup-Final von 1973 den Eindruck des Regisseurs, von dem nicht wenige sagen, er sei zu seinen besten Zeiten so gut wie Cruyff gewesen. Athletisch, dribbelstark, schnell und dynamisch. Nur Kopfbälle mochte er nicht, wie Netzer einmal amüsiert zu Protokoll gab: Da hätte er ja gleich Hand spielen können.

Netzer war keineswegs, trotz Ferrari und eigener Diskothek, der Rebell des Fussballs. Und er war, trotz imposanter Kunstsammlung, nicht das, was seine Bewunderer in ihm sehen wollten, wie sein Biograf Helmut Böttiger sagt: «Jeder wusste, dass Netzer eigentlich unpolitisch ist, und jeder wusste, dass Netzer kein grosser Kulturbürger und Intellektueller ist.»

Das Bild, das um ihn entstand, lud allerdings zu Fehldeutungen ein. Auch Karl Heinz Bohrer hatte dies so gesehen: In der «TAZ» erklärte er, es wäre ihm zwar nicht unsympathisch gewesen, Netzer als «links» zu begreifen. Als eine politische Figur aber habe er ihn nie aufgefasst. Bohrer sah in Netzer das, womit dieser sich wohl am ehesten anfreunden konnte: den Ästheten auf dem Fussballfeld. Und als solcher ist er bis heute ohne Konkurrenz.

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