Brendel ist im Alter von 94 Jahren in London gestorben. Er hat die Interpretation, aber auch das Denken und Schreiben über klassische Musik so stark beeinflusst wie kaum ein zweiter Künstler im 20. Jahrhundert.
Den Musiker und Pianisten Alfred Brendel hörte und sah ich im Konzert wohl erstmals in den frühen siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Brendel war damals noch nicht der Weltstar, der er bald darauf sein würde, auch wenn er aus den Rängen des Exzentrikers und Sonderlings herausgetreten war und allseits viel Bewunderung erhielt. Die äussere Erscheinung erinnerte an eine Gestalt aus der Welt des romantischen Schriftstellers E. T. A. Hoffmann, während das, was heraus- und emporwuchs, nämlich die Kunst der Interpretation, fortlaufend Wunder erzeugte.
Brendel war anders. Er wirkte vital und distanziert, verwundert und entschlossen, nachdenklich und witzig, während er sogleich vergass, dass er vor grossem Publikum musizierte, und stattdessen nach innen horchte: in die Werke und ihre Magie, als hätte es gegolten, sie behutsam, manchmal auch energisch wachzuküssen, wie er es dann einmal kongenial formulierte. Wer einen routiniert muskulösen Spieler erwartet hätte, wäre wohl nicht auf seine Kosten gekommen. Gegen das Gros der Kollegen verkörperte Brendel den Intellektuellen, ohne daraus ein inszeniertes Theater zu machen. Man kann zu Recht behaupten, dass seine umfassende Bildung ihren Anteil daran hatte, was jeweils wie erklingen sollte.
Schweben, Singen und Sprechen
Brendels Mimik trug fraglos dazu bei, ihn als eine literarische Figur wahrzunehmen. Es war gewöhnungsbedürftig, ihn auf der Bühne zu beobachten. Der ganze Körper war in Aktion, das Gesicht figurierte als Ort des Ausdrucks für alle möglichen Seelenlagen, sei es in dramatischer, sei es in heroischer, in lyrisch-zärtlicher oder in philosophisch-erhabener Absicht. Davon durfte man sich nicht ablenken lassen, wenn man diesem Interpreten und seiner Arbeit auf die Spur kommen wollte.
Wer mit Pianisten wie Gilels und Richter, Cziffra und Michelangeli, Horowitz und Arrau und weiteren Heroen der Tasten sozialisiert worden war, tat also gut daran, neu zu hören. Brendel war auch deshalb anders, weil das Instrument als solches nicht den Vorrang vor den Stücken genoss, die es zur Darstellung bringen sollte. Trug Brendel seine Favoriten vor, Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert, liess er im Nu vergessen, dass diese für die Tasten geschrieben hatten.
Es war schon in Brendels mittleren Jahren ein eigentümliches Schweben, Singen und Sprechen zu vernehmen, das die Mechanik des Steinways mit Leichtigkeit überwand. Man hörte häufig Kammermusik, Vielstimmigkeit nicht nur struktureller, sondern auch emotionaler Faktur: bei Haydn das Sprechen und Konversieren, bei Mozart einen Gesang, der alle Koloraturen von der Innigkeit bis zu Leiden und Klagen erkannte; bei Beethoven dann beides, je nach Werk und Absicht. Anders gesagt, dieser Interpret ging in seiner Berufung auf, die niemals den Eindruck erweckte, aus Schweiss und Anstrengung geboren zu sein, obwohl Brendel ein fabelhaft disziplinierter Musiker war.
Dass er kein Wunderkind war, erfüllte ihn mit Stolz. Hingegen wuchs er durchaus behütet im Hause der Eltern auf, die in Zagreb ein Kino betrieben und den Sohn in die Welten der Kultur hineinführten. Die Mutter, eine passable Pianistin, nahm den kleinen Alfred auch musikalisch zur Brust. Der Vater, eine Frohnatur, sorgte für den Humor und gewisse Zwischentöne. Als Kind summte Brendel Jan Kiepuras Schlager «Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frau’n».
Am Konservatorium von Graz studierte Brendel Klavier und Komposition und schrieb nebenbei eine vierstimmige Fuge, ging dann nach Wien, lernte bei Edwin Fischer in der Schweiz, erhielt eine Medaille beim Busoni-Wettbewerb in Bozen, lebte ab 1950 mit gemischten Gefühlen in der Metropole des verblichenen Kakanien, bis er Anfang der siebziger Jahre nach London zog, wo ihm der unaufgeregte Lebensstil imponierte. Hinzu kamen Gelassenheit und Ironie, die mit Karl Kraus und seinen Wiener Weltuntergangsszenarien gar nichts zu tun hatten.
Elixier einer staunenswerten Vitalität
Und dann? Jahrzehnte unentwegt im Dienste und zum Lob der Musik, nach seinen Vorstellungen, partnerschaftlich interessiert, selbstbewusst, doch ohne Allüren, immer bereit, Freundschaften zu schliessen, mit Gleichgesinnten oder auch einmal mit Antagonisten, mit Dirigenten, Autoren, Künstlern, mit Musikerinnen und Musikern, die seinen Ansprüchen standhielten und auch dazu befähigt waren, den Humor und die Freuden des Lebens zu teilen. Als er sich einmal mit Pollini, der ein sehr anderer Charakter war, über den langsamen Satz von Beethovens Sonate in G-Dur op. 31 unterhielt, habe der Italiener ausgerufen, divino, divino, während er, Brendel, in den auf- und absteigenden Koloraturen der rechten Hand gerade umgekehrt die irdisch-witzige Seite des Komponisten gepriesen habe. – Natürlich hatte er recht.
Es war jedoch insbesondere Franz Schubert, mit dessen Klavierwerk sich Brendel hervortat. Zu Anfang der siebziger Jahre präsentierte er in London zum Entzücken des Publikums zyklische Aufführungen des Meisters, der damals noch keineswegs in aller Ohren war. Hier, in den Sonaten, den Impromptus, den Klavierstücken oder auch der «Wanderer»-Fantasie, erkannte Brendel nicht nur eine Fülle von Formen, sondern auch die Abenteuer der Empfindung. Schuberts horchendes Genie fand einen wahrhaft kongenialen Deuter, der auch für die kommenden Generationen Massstäbe setzte.
Als junger Mann, dessen Karriere noch länger im Ungewissen verlief, begeisterte sich Brendel auch für anderes, wie etwa Balakirews orientalische Fantasie des Titels «Islamey», ein Klavierkonzert von Prokofjew, Strawinskys dreisätzige «Petruschka»-Suite oder Polonaisen von Chopin. Kleinere Labels verpflichteten ihn mit Freuden, weil er zu vielem bereit und tatendurstig parat war. So entstand auch eine frühe Gesamteinspielung sämtlicher Solo-Werke Beethovens. Brendels Kunst, je nach Charakter und Stimmung zu schattieren, bewies sich nicht nur in den Haupt- und Staatsstücken, sondern auch in unauffällig charmanten Nummern wie den Variationen über «La Stessa, la Stessissima», die die Spiellaune des Pianisten kräftig animierten.
Neugier war eine entscheidende Qualität. Sie sorgte dafür, dass Brendel noch in einem Alter jung blieb, das bei anderen längst durch Starrsinn und Sorgenfalten besetzt war. Hier Mozarts Klavierkonzerte, dort jenes von Arnold Schönberg. Hier Schumanns «Kreisleriana», dort Abgelegenes von Busoni wie etwa die grausam schwierige «Toccata». Hier die Balladen von Brahms, dort die «Variations sérieuses» von Mendelssohn oder Webers Konzertstück oder dessen 2. Sonate, die man sonst kaum je im Konzertsaal hörte. – Neugier war und blieb bis zuletzt das Elixier einer staunenswerten Vitalität.
Geerdet und getestet wurde sie durch die Disziplin. Denn Brendel, der auf dem Podium den Entrückungen nachzugeben schien, war immer auch ein starker Vollbringer. Die Auseinandersetzung mit Beethovens «Diabelli»-Variationen beschäftigte ihn über Jahrzehnte als ein work in progress, das einerseits nach dem Gültigen strebte, anderseits das Momentum der Inspiration voll auszuschöpfen hatte. Zufriedenheit war eine Kategorie ex post: nach vollbrachter Arbeit, die nur wieder in neue Herausforderungen und Abenteuer münden sollte.
«Kirche. Kein Eingang»
Gewiss, Alfred Brendels imponierende Intellektualität war dabei von Nutzen. Sie war keine Belastung, sondern ein unverwechselbares Vitamin, das seine Wirkung nicht nur aus der Musik und ihrer Geschichte bezog, sondern nicht weniger aus der Literatur, der Philosophie, der bildenden Kunst. Man konnte mit Alfred wirklich über alles reden und diskutieren – und sogar, wenn auch unter Vorbehalten, über den lieben Gott. Dass der bekennende Atheist ein Faible für Barockkirchen insbesondere des süddeutschen Raums kultivierte, war kein Geheimnis und die Kehrseite der Medaille. Dieser oft grandios ins Masslose gesteigerten Pracht aus Marmor, Gold und Stuck ad maiorem Dei gloriam antwortete in Brendels Londoner Domizil als Antidot beispielsweise eine Radierung von Morandi.
Gegensätze also, aber auch Kombinationen, zwischen dem Humor, der auch gerne mal ins Schwarze zog, und dem sachlich-kühlen Pathos, wenn es um das Studium der Noten ging; zwischen Brendels seltsamer Liebe zu den Unsinnsproduktionen von Dada und, umgekehrt, der Hingabe, mit der dieser dann so selbstvergessene Interpret eine Kantilene von Schubert in die Ewigkeit entrückte. Das Haus in Hampstead Height, das manchem Freunde offenstand, war dafür die gegenständlich gewordene Metapher: ein gewaltiges, da und dort auch gewalttätiges Museum aus Büchern und Bildern, Schallplatten und Skulpturen, Memorabilia und Momenten aus der Vita des spielenden, lesenden, reisenden und schreibenden Künstlers. Auf einer Türe dieses Refugiums, die das Entrée mit dem Musikzimmer verband, hing ein altes, von irgendwo her mitgebrachtes, möglicherweise gar «entliehenes» Schild aus Email mit der Inschrift «Kirche. Kein Eingang».
Sprung in die Lyrik
Am besten auf all diese Besonderheiten passt wohl die folgende Formel: Bedeutungsdichte. Ich kenne kaum einen anderen Freund, der so wachen Sinnes durch Zeiten und Räume unterwegs war und dabei überall die Signifikanten erspähte. Die Welt mochte sinnlos sein, ein Ort des Wahnsinns und der Widersprüche, und gleichwohl offerierte sie dem Suchenden, der dafür empfänglich war, die spannendsten Kompressionen. Das Thema der Arietta aus Beethovens Opus 111 neben einer Zeile von Goethe, ein Film von Luis Buñuel neben einer malerischen Gasse samt Antiquariat in der Altstadt von Orvieto, seltsame Tiere auf seltsamen Kontinenten (Australien), dazu das laufend sich erneuernde Panoptikum der Menschheit, zumal in einzelnen ausgewählten Exemplaren, die nur eines vor allem nicht sein durften: langweilig – oder bombastisch. Der Kreis der Freundinnen und Freunde bleibt legendär.
Kein Wunder, dass Brendel daneben zu einem Meister der Sprache heranreifte, der für seine Lehr- und Wanderjahre kenntnisreich und klug über die Musik und ihre Werke zu schreiben begann. Man müsste den Essay über die «Kinderszenen» nicht kennen, um Brendels Deutung dieses Zyklus von Schumann zu bewundern, ja zu lieben. Aber es könnte weiterhelfen, zu verstehen, woran ihm lag und liegt, wenn man die Einspielung immer wieder mit Hingabe hört.
Später dann der Sprung in die Lyrik. Brendel wurde zum Poeten: kaustisch witziger Gedichte, über Musiker und andere gefährdete Existenzen, über die Wechselfälle des Daseins, über sich selbst in maskierten Gestalten und über die Nöte des Irdischen, die erst durch die Kunst akzeptabel, ja geadelt werden. Das Feuilleton dieser Zeitung hatte die Ehre und das Vergnügen, eine schöne Reihe zu publizieren, bevor sie in Buchform erschienen.
Wobei zwanglos noch Franz Liszt ins Spiel käme, dem Brendel ein Leben lang mit nie nachlassender Energie gehuldigt hat. Er erschloss sich und gestaltete den «ganzen» Liszt, den dämonischen Virtuosen und den Landschaftsmaler, den Anreger und Vermittler wie den frommen Abbé und last, but not least auch den grossen Alten, der kühn und finster in die Moderne vorausspähte. Während sich mürrische Klaviertanten noch länger über das vermeintliche Geklingel mokierten, um sich wieder in die Stücke von Carl Czerny zu vergraben, korrigierte Brendel in Sachen Liszt dessen Rezeption für Generationen. Die letzte Zugabe seines Abschiedskonzerts im Grossen Saal des Wiener Musikvereins vom 18. Dezember 2008 galt Liszts Wellenschlag des Titels «Au lac de Wallenstadt» aus dem Schweiz-Band der «Années de pèlerinage».
Wenn wir in diesen Tagen Abschied nehmen und trauern, wissen wir zugleich, dass ein überreiches Leben seinen Ausklang gefunden hat. Bis kurz vor seinem Tod am 17. Juni war Alfred Brendel ein hellwacher Gefährte und Zeitgenosse. Dafür sei Dank gesprochen. Der Dank gilt jedoch insbesondere einem Menschen, der als Musiker, Schriftsteller, Lehrer und Freund durch und durch souverän war, unentwegt gegeben hat und dabei stets sich selbst geblieben ist.
Martin Meyer leitete das Feuilleton dieser Zeitung von 1992 bis 2015. – Im Jahr 2001 erschien der Band: «Alfred Brendel: Ausgerechnet ich. Gespräche mit Martin Meyer». Im Frühjahr 2025 kam ein weiterer Band hinzu: «Alfred Brendel: Naivität und Ironie. Essays und Gespräche», herausgegeben von Martin Meyer und Michael Krüger.