Er schmiedete Kompromisse mit dem politischen Gegner, redete wenig und hörte den Leuten zu: Enrico Berlinguer verkörperte das Gegenteil der heutigen politischen Klasse in Italien. Wird er gerade deswegen heute so verehrt? Nicht einmal Giorgia Meloni kann sich dem Mythos des Kommunistenführers entziehen.
Die Videosequenz ist schwer zu ertragen. Am 7. Juni 1984 hält Enrico Berlinguer auf der Piazza della Frutta in Padua eine Rede aus Anlass des gerade laufenden Europawahlkampfs. Er fängt routiniert an, spricht deutlich und klar, unterbrochen von sporadischem Applaus. Plötzlich wird seine Rede schleppend, Berlinguer schwitzt, hustet in sein Taschentuch, seine Stimme wird leiser. Die Menge ruft: «Basta Enrico!», und fordert ihn auf, abzubrechen. Er aber macht weiter, schwer gezeichnet.
Später stellt sich heraus: Der Chef der kommunistischen Partei Italiens hat in diesem Moment, während der Rede in Padua, einen Schlaganfall erlitten. Er geht noch zurück in sein Hotel und fällt dann ins Koma. Vier Tage später ist er tot, gestorben im Alter von 62 Jahren. Staatspräsident Sandro Pertini stellt für die Überführung des Leichnams nach Rom das Präsidentenflugzeug zur Verfügung.
Am 13. Juni wird Berlinguer beigesetzt. Mehr als eine Million Menschen nehmen an der Trauerveranstaltung teil, ein einmaliger Aufmarsch. Bei den Europawahlen am darauffolgenden Sonntag überholt Berlinguers Partei, der PCI, zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte die Democrazia Cristiana (DC) und erzielt einen Stimmenanteil von über 33 Prozent – ein Wahlergebnis, das auch als Zeichen der Anteilnahme zu verstehen ist.
Das Video seines letzten Auftritts und seiner Agonie am Rednerpult ist Teil einer grossen Berlinguer-Wanderausstellung, die derzeit in Italien zu sehen ist. 65 000 Menschen, unter ihnen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, haben sie in Rom besucht, 35 000 waren es in Bologna. Die Schau soll in weiteren Städten gezeigt werden, unter anderen auch in Sassari, dem Geburtsort von Berlinguer in Sardinien.
Und vor wenigen Wochen ist ein Film in den Kinos angelaufen, der sein Leben dokumentiert und insbesondere jene Phase zwischen 1973 und 1978 darstellt, in welcher er zusammen mit dem Christlichdemokraten Aldo Moro den sogenannten «historischen Kompromiss» zwischen den damals führenden Volksparteien anstrebt. «Berlinguer – la grande ambizione», so der Titel, ist ein Renner und steht derzeit an vierter Stelle in der Rangliste der meistbesuchten Filme im Land. Am Filmfestival von Rom wurde der Berlinguer-Darsteller Elio Germano gerade als bester Schauspieler ausgezeichnet.
Eine untergegangene Welt
Auch vierzig Jahre nach seinem Tod ist der Mythos Berlinguer nicht verblasst. Im lauten und geschwätzigen Italien ragt er, der «Sardo muto», wie man ihn nannte, der stumme Sarde, immer noch heraus wie ein Fels in der Brandung.
Ist es nur Nostalgie? Sehnsucht nach einer Zeit, in der die Politiker noch Klasse, Anstand und einen klaren strategischen Blick hatten? Oder ist es die italienische Variante dessen, was man in Deutschland «Ostalgie» nennt?
Sowohl Film als auch Ausstellung zeigen eine untergegangene Welt: ohne Internet, ohne X, ohne Instagram, dafür mit riesigen Telefonapparaten mit gedrehten Kabeln, überquellenden Zeitungskiosken – und ganz viel Zigarettenrauch. Silvio Berlusconi war in jenen Jahren noch nichts anderes als ein aufstrebender Bauunternehmer aus Mailand, Giorgia Meloni ein Säugling. In Berlin stand die Mauer, und in Moskau regierte Leonid Breschnew.
Der PCI war zu Berlinguers Zeit die grösste kommunistische Partei ausserhalb der UdSSR, zählte über zwei Millionen Mitglieder und war ein von den USA kritisch beäugter Machtfaktor in Europa. In dieser Welt schlug Berlinguer einige Pflöcke ein: Er nabelte seine vormals stalinistische Partei von der Sowjetunion ab, verzichtete auf finanzielle Unterstützung aus Moskau, sprach sich für den Verbleib Italiens in der Nato aus und lobte die Demokratie westlichen Zuschnitts. Mit Aldo Moro verhandelte er bis zu dessen Entführung und Ermordung 1978 durch die Roten Brigaden über eine Regierungsbeteiligung der Kommunisten – es wäre die Vollendung des erwähnten historischen Kompromisses gewesen.
Als die Partei 1991 aufgelöst wurde, sang der italienische Cantautore und Schauspieler Giorgio Gaber die Liedzeile: «Mancher war nur ein Kommunist, weil Berlinguer ein guter Mensch war.» Das trifft es gut. Die Italiener fühlten sich weniger von der reinen kommunistischen Lehre angezogen als vielmehr von der Person Berlinguers.
Und heute? In den Strassen Roms begegnet man zwar mitunter noch Aktivisten, die Flugblätter mit Hammer und Sichel verteilen. Aber das ist reine Folklore. Die Politik enthält kaum noch Spuren von Kommunismus – selbst wenn der Chef der Lega, Matteo Salvini, seinen Lieblingsgegnern, den Richtern des Landes, derzeit gerade wieder das Gegenteil unterstellt.
Die Partei ist atomisiert, einige frühere Kommunisten haben sich dem sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) zugewandt, andere engagieren sich in Kleinparteien, viele sind gestorben, einige haben resigniert und trauern den alten Zeiten nach. «Come abbiamo fatto a perdere tutto questo?», fragt einer von ihnen am Kinoausgang, wie konnten wir all das nur verlieren? Sagt es und verwirft die Hände.
Das Gegenteil der heutigen Politiker
Der Kommunismus ist gegangen, Berlinguer aber ist geblieben, jedenfalls die Erinnerung an ihn. «Er war das exakte Gegenteil der heutigen Parteipolitiker, die es gewohnt sind, permanent Lärm zu machen und Tiktok-Videos aufzunehmen», sagt der 69-jährige Walter Veltroni im Gespräch. Veltroni hat Berlinguer persönlich gut gekannt, wurde später unter Romano Prodi stellvertretender Ministerpräsident und Kulturminister Italiens, war sieben Jahre Bürgermeister von Rom sowie Partei- und Fraktionschef des PD. Heute arbeitet er für den «Corriere della Sera» und die «Gazzetta dello Sport» und dreht Filme.
«Berlinguer war scheu, reserviert, freundlich und sprach nur wenig», sagt Veltroni. Gleichzeitig sei er ein grosser und entschlossener Erneuerer gewesen: «Er hat im PCI Türen und Fenster geöffnet, zur Democrazia Cristiana, zur Nato, zur liberalen Demokratie.» Die Italiener hätten ihn auch deswegen gemocht und respektiert. Sie hätten gespürt, dass er im Einklang mit seinen Ideen war – kohärenter als die meisten heutigen Politiker, die nur nach dem kurzfristigen Erfolg schielten.
Die heutige Popularität Berlinguers verblüffe, meint ein anderer früherer Weggefährte, Massimo D’Alema, der ehemalige Aussenminister und linksdemokratische Regierungschef. «Nach so vielen Jahren der Anti-Politik herrscht möglicherweise ein gewisses Verlangen nach echter Politik», sagte er kürzlich und spielte damit auf den Aufstieg Silvio Berlusconis und der Populisten von Lega und der Fünfsterne-Bewegung an.
Italien ist heute ein anderes Land als damals. Politik ist mit Berlusconi eine Art Showbusiness geworden, eine grosse TV-Show, die mittlerweile neue Bühnen sucht und diese in den sozialen Netzwerken findet. Im Halbstundentakt feuern Regierung und Opposition immer neue Salven ab: Kurzstatements und Anschuldigungen hier, Repliken dort. Alles etwas künstlich und ziemlich aufgeblasen.
Berlinguers Leben ist das Kontrastprogramm dazu: Mühsal, Arbeit – und zuletzt Tragik. Politik als heroische Erzählung. Das fasziniert, heute mehr denn je, und erklärt den nostalgischen Überschwang.
Was bei aller Bewunderung aber übersehen oder verdrängt wird: Italien war zur Zeit Berlinguers ein extrem unruhiges Land, gewalttätig, von Hass und Intrigen durchdrungen. Strassenschlachten und Anschläge waren an der Tagesordnung. Rechts- und linksextremer Terror erschütterte das Land. Auch Berlinguer wurde bedroht, sein Annäherungskurs an die DC und die Nato stiess bei der Linken auf teilweise heftige Kritik.
«Wenn die Filmemacher 1973 zwanzig Jahre alt gewesen wären, hätten sie meiner Meinung nach den historischen Kompromiss gehasst», sagte Nanni Moretti bei der Präsentation des Filmes in seinem Kino. Moretti zählt zu den wichtigsten Filmemachern Italiens der Gegenwart und betreibt eine eigene Produktionsfirma sowie ein Kino im römischen Quartier Trastevere.
Seine Intervention hörte sich an wie die Störung des Gottesdienstes. Italien will sich nicht wirklich inhaltlich mit jenen Jahren auseinandersetzen. Vielmehr schwelgt es gerade in der Erinnerung an einen Mann, den sie hier als den «leader politico più amato» bezeichnen, den am meisten geliebten Politiker in der Geschichte der Republik – «Dolce Enrico», wie Antonello Venditti sang.