Der Mensch dokumentiert sich gern – und hat mit dem Handy das perfekte Instrument dafür gefunden. Dabei wäre ein anderes Tool viel wirksamer.
Vielleicht hatte Kate Moss tatsächlich ein bisschen zu viel getrunken. Oder die hochhackigen Schuhe vertrugen sich nicht mit dem langflorigen Teppich. Jedenfalls war ihr Gang ins Pariser «Ritz» an jenem Abend im Herbst 2024 definitiv weniger elegant als sonst.
Nicht, dass man selbst dabei gewesen wäre. Irgendein aufmerksamer Beobachter hatte die Szene aufgenommen und das Video in den sozialen Netzwerken gepostet – mit dem Titel: «Der Moment, in dem Kate Moss total besoffen von einer Fashion-Show zurückkommt».
Es gibt gerade sehr viele solche «Momente» da draussen. Auf Youtube, Tiktok und Instagram sowieso, aber auch in Boulevardmedien werden täglich Videos im immergleichen Duktus geteilt: «Der Moment, in dem . . .» – ein Auto von einer Brücke stürzt, die Wassermassen in Valencia einliefen, ein verzogenes Kind den halben Walmart-Supermarkt zerlegt.
Unglaublich! Aber offensichtlich ja wahr, wie die Videos beweisen.
Was dabei ein bisschen untergeht, jedoch mindestens genauso erstaunlich ist: Warum gibt es eigentlich alle diese Bilder? Weil gerade zufällig jemand filmte? Oder doch eher, weil sofort reflexartig das Handy gezückt wird, sobald etwas Aufregendes oder Aussergewöhnliches passiert?
95 Millionen Bilder pro Tag auf Instagram
Wie Cowboys früher, die ihren Revolver immer im Anschlag hatten, nehmen viele Menschen heute instinktiv das Smartphone in die Hand und drücken ab. Sogar die Bewegung aus der Hüfte ist ja ein bisschen ähnlich: Männer greifen rasch in die Hosentasche, viele Frauen tragen ihr Smartphone wie im Halfter mit einer Kette seitlich am Körper, damit sie es möglichst griffbereit haben. Klar, auch für eingehende Anrufe und Nachrichten. Aber der moderne, hyperaktive Nutzer will vor allem jederzeit schnell ein Foto oder ein Video machen können.
Allein auf Instagram werden pro Tag über 95 Millionen Bilder und Videos hochgeladen. Die Dunkelziffer der Aufnahmen, die nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken, sondern nur für private Zwecke gemacht werden, dürfte locker in die Milliarden gehen.
Wer den neusten Stand der eigenen Fotogalerie einmal kurz checken will: Nicht selten bewegt er sich im mittleren fünfstelligen Bereich. Zig verwackelte Konzertaufnahmen, Hunderte sicher rasend spannende Szenen aus der Fussball-F-Jugend, unzählige Bilder von Essen auf Tellern.
Was davon hätte es früher ins geklebte Fotoalbum geschafft?
Der Mensch versucht das flüchtige Leben nun einmal festzuhalten, könnte man argumentieren. Für sich, seine Zeitgenossen, die Nachwelt. Haben nicht selbst die Steinzeitmenschen Jagdszenen auf ihren Felswänden hinterlassen? Gab es den Impuls, Momente einzufangen, also nicht schon immer?
Zumindest hat jedes neue Medium, von der Zeichnung über die Schrift bis zum Foto und zum Film, diese Neigung dramatisch verstärkt. In den achtziger Jahren schienen technikbegeisterte Eltern ihrem Nachwuchs andauernd mit einem Camcorder auf den Fersen zu sein. Mit dem Smartphone haben nun alle das ultimative Werkzeug in der Hand.
Keinen Augenblick mehr verpassen!
Manche Kinder müssen in ihren ersten Lebensjahren ungefähr den gleichen seltsamen Eindruck bekommen wie Pop-Stars bei Konzerten: Sie blicken ständig in ein Meer aus Kameralinsen – als sei das Smartphone eine Art vorgelagerter Sehapparat. Hätte man diesen Anblick vor fünfzig Jahren in einem Science-Fiction-Film inszeniert, die Leute hätten wahrscheinlich mit dem Kopf darüber geschüttelt, wie bescheuert das aussieht.
Wir machen Selfies, um unser Revier zu markieren
Fragt man Anthropologen nach dem Ursprung des revolverartigen «Handyreflexes», nennen sie weniger die Liebe zum Dokumentarischen, als vielmehr den Drang des Menschen, «sich zu verorten». So formuliert es zumindest Nicholas J. Conard von der Universität Tübingen auf Anfrage. Er sagt: «Früher ritzten Menschen ihre Initialen oder ein ‹Ich war hier!› in Bäume und Parkbänke, heute machen sie ein Selfie.» Das sei ein bisschen wie bei Hunden, die ihr Revier markierten.
Auch die alte Ansichtskarte diente nicht nur dazu, den Daheimgebliebenen schöne Grüsse und die Temperaturen sowie kulinarische Entdeckungen von der Riviera zu übermitteln, sondern auch dazu, ihnen zuzurufen: «Schaut, wo wir sind!» Reiseleiter berichten, dass mittlerweile gerade jüngere Touristen Sehenswürdigkeiten nur noch mit der Kamera «abschiessen» würden und dann sofort weiterziehen wollten.
Been there, done that, took a picture.
Auch im Alltag werden überall digitale Stecknadeln gesetzt und Belegbilder gemacht, als wolle sich der Mensch ständig seiner eigenen Anwesenheit, Existenz und – natürlich – Exzellenz vergewissern. Der sexy, verschlafene Blick morgens im Spiegel, der erste Kaffee, das Outfit des Tages, das Menu beim Ausgehen. Als müsste jedes Ereignis wie an einer Registrierkasse abgehakt und abgespeichert werden. Was nicht erfasst wurde – ist das überhaupt wirklich passiert?
2012 veröffentlichte das Magazin «The Atlantic» einen Artikel mit der Überschrift «The Facebook Eye». Bereits damals mahnte dort der Autor, dass wir durch das digitale Belohnungssystem mit Aufmerksamkeit und Likes Gefahr liefen, den Blick nur noch auf mögliche Posts auszurichten. In der Konsequenz würde unser Gehirn alles Erlebte automatisch auf seine Verwertbarkeit abklopfen.
Zwölf Jahre und ein paar Plattformen später hat sich diese Befürchtung nicht nur bewahrheitet, die kühnsten Vorstellungen wurden noch übertroffen.
Es gibt Influencer, die ihr Leben inszenieren und monetarisieren. Aber auch alle anderen, die in sozialen Netzwerken etwas posten, sind ein Stück weit Unternehmer ihres Alltags geworden, den sie im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie aufbereiten. Wer die besten, lustigsten, irrsten Sachen erlebt, sahnt am meisten Zuspruch ab. Man muss nur im richtigen Moment abdrücken.
Einen gewissen Mehrwert hat die allgemeine Schiesswütigkeit natürlich. Während es früher kaum unmittelbares Material von Ausnahmeereignissen gab und allenfalls Zeugenaussagen existierten, tauchen heute fast immer Fotos und Videos auf.
Bei dem Anschlag auf das Konzert von Ariana Grande 2017 in Manchester konnte die Polizei vor allem anhand von privaten Aufnahmen den Tathergang rekonstruieren. Hätte die 17-jährige Passantin Darnella Frazier im Mai 2020 nicht vom Bürgersteig aus gefilmt, wie ein Polizist dem am Boden liegenden George Floyd mit seinem Knie die Luft abschnitt, wäre der Täter wahrscheinlich nie verurteilt worden.
Umgekehrt versperren Horden von solchen Amateurreportern an Tatorten immer häufiger den Zugang für Rettungskräfte. Der erste Instinkt ist offensichtlich nicht mehr, zu helfen, sondern das Handy zu ziehen.
Der Handyreflex macht uns abwesend
Dabei verpasst nicht derjenige etwas, der nicht filmt. Im Gegenteil, wahrscheinlich ist es genau umgekehrt: Eine ganze Reihe Studien legen nahe, dass man sich besondere Momente im Leben schlechter einprägt, wenn man währenddessen fotografiert oder Videos dreht. Und zwar nicht nur, weil man dann unaufmerksamer wäre, sondern weil das Gehirn insgeheim ja weiss, dass man sich das alles später noch einmal angucken könnte. Deshalb «speichert» es diese Momente erst gar nicht so richtig ab.
Forscher von der Universität Yale kamen ausserdem zu dem Schluss, dass der vorgehaltene Bildschirm ein Stück weit «emotional abkoppele» und die Situation viel weniger intensiv erlebt werde. Statt der Protagonist seines eigenen Lebens zu sein, wird man zum unbeteiligten Beobachter.
Das kann keine noch so gute Aufnahme später ändern, wobei man sich einen Grossteil davon – jede Wette – sowieso nie wieder anschaut.
In seinem Aufsatz «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» vertrat der deutsche Philosoph Walter Benjamin die These, dass ein Gegenstand seine «Aura» verliere, wenn er nicht mehr unmittelbar und in seinem ursprünglichen Kontext erlebt werde.
Das gleiche Argument lässt sich auf persönliche Erlebnisse übertragen: Die Modenschau fühlt sich auf Video nicht mehr ansatzweise so glamourös an. Das Krokodil, das da in Australien plötzlich durch den Fluss schwamm, jagt einem nachträglich keinen zweiten Schauer über den Rücken. Das Staunen des Kindes über seine ersten Schritte lässt sich hundertmal anschauen, aber nie wieder so erleben.
Absurderweise wird der Moment umso flüchtiger, je mehr wir versuchen, ihn festzuhalten. Wir erledigen ihn mit der Handykamera. Alle Kopien davon wirken leer. Mal ganz abgesehen von all der Lebenszeit, die dabei draufgeht. Man macht ja nicht mehr nur ein Bild, sondern mehrere. Dann wird editiert, bearbeitet, inszeniert.
Die neue Challenge: Lass stecken!
Weil der moderne Nutzer ja so gern Challenges mitmacht, die er dann auf Video festhalten und teilen soll, hier einmal eine Herausforderung für die kommenden Wochen: Nennen wir sie «Lass stecken!». Es geht darum, nichts zu posten, nichts aufzunehmen oder zu fotografieren – sondern einfach nur das Schlittelrennen der Kinder anzuschauen. Den Auftritt der Lieblingsband einmal nicht über den Handybildschirm zu verfolgen.
Denn, sind wir ehrlich, niemand interessiert sich wirklich für die Konzertschnipsel der anderen. Auch Likes für irgendwelche Austernteller oder Käsefondueszenen sind allenfalls freundschaftliche Almosen. Jedes nicht gemachte Bild nimmt ausserdem weniger Speicherplatz weg. Dafür bleibt der Moment vielleicht extralange auf dieser anderen Festplatte hängen: im eigenen Gedächtnis.