Samstag, September 20

Über tausend Menschen wurden beim Attentat der Hamas getötet, gefoltert, verschleppt. Die Mehrheit der globalen Linken solidarisierte sich nicht mit den Opfern, sondern mit den Terroristen. Die Soziologin Eva Illouz sucht nach den Gründen dafür.

Im Mai 2020 tötete ein weisser Polizist in Minneapolis den Afroamerikaner George Floyd. Kurz darauf unterschrieben 600 jüdische Organisationen in Amerika einen offenen Brief zur Unterstützung der «Black Lives Matter»-Bewegung. «Wir wissen, dass die Freiheit und Sicherheit eines jeden von uns von der Freiheit und Sicherheit aller abhängt», steht darin. Nachdem am 7. Oktober 2023 fast 1200 Israeli einem Massaker der Hamas zum Opfer gefallen waren, blieben die meisten «Black Lives Matter»-Gruppen nicht nur stumm, sondern solidarisierten sich mit der Terrormiliz.

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«Das war zweifellos die schmerzhafteste Reaktion von allen», schreibt Eva Illouz in ihrem Essay «Der 8. Oktober». Die Soziologin geht der Frage nach, wieso die Opfer der abscheulichen Tötungen, Vergewaltigungen und Verstümmelungen nicht bemitleidet wurden, warum das Vorgehen der Hamas nicht klar verurteilt wurde. Und weshalb sofort Israel in der Kritik stand und nicht die Terroristen, die das Massaker angerichtet hatten.

«Welche Position auch immer man zur militärischen Reaktion Israels vertritt, rechtfertigten die Ereignisse des 7. Oktober doch eine Reaktion des Mitleids», hält Illouz fest. Das Vorgehen der Hamas war beispiellos. Hunderte von Menschen wurden getötet, gefoltert, verschleppt. Dafür habe es kein Mitgefühl gegeben, schreibt Illouz, sondern «krankhaften Jubel» nicht nur bei Palästinensern, sondern auch bei Schwarzen und Linken.

Im Dienst der Hamas

Illouz erklärt die Reaktionen mit einem tiefsitzenden Antisemitismus, der schnell zur Stelle sei, um Juden an den Pranger zu stellen. Bloss habe es sich diesmal um einen «sich tugendhaft gebenden Antisemitismus» gehandelt. Die schwarze Community und die identitäre Linke solidarisierten sich mit den Palästinensern, weil diese in ihren Augen von einem «Apartheidstaat» unterdrückt und ausgebeutet würden.

Während Israel für Imperialismus, Kolonialismus und Kapitalismus stehe, stehen die Palästinenser einerseits für die Proletarier im antikapitalistischen Klassenkampf, andererseits für die Schwarzen im antikolonialistischen Widerstand. Im Weltbild vieler Linker sind sie im Nahostkonflikt die Opfer, was auch immer geschieht. Selbst wenn man die Tatsachen dafür zurechtbiegen muss.

Judith Butler, Ikone der queeren Linken, zog am 3. März 2024 sogar die Fakten in Zweifel. Sie wolle wissen, «ob es Beweise für die behaupteten Vergewaltigungen israelischer Frauen gibt», sagte sie an einer Tagung in Paris – ungeachtet der Tatsache, dass die islamistischen Terroristen den Pogrom mit ihren Action-Cams aufgenommen und live gesendet hatten. Mit ihren Aussagen steht Butler stellvertretend für die sich als progressiv verstehende Linke, die sich in den Dienst der Hamas stellt – einer Organisation, deren erklärtes Ziel die Auslöschung des Staates Israel ist, dessen Existenzrecht sie bestreitet.

In ihrem dichten, klugen Essay wirft Illouz die Frage auf, wieso vor allem Geistes- und kaum Naturwissenschafter für «Free Palestine» demonstrierten. Dies habe mit dem in den USA weitverbreiteten Poststrukturalismus zu tun, schreibt sie: Der «French Theory» liege eine antikapitalistische und antikolonialistische Haltung zugrunde, die sich gegen den Westen und die Werte der Aufklärung richte.

Keine Wahrheit, aber eine klare Moral

Weil die «French Theory» die Welt und die Gesellschaft nicht als Gefüge von Tatsachen verstehe, sondern als Netz von Zeichen, Diskursen und Texten, löse sie die Anbindung an die Realität auf – und damit die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge. Die «chaotische Dialektik der historischen Ereignisse» weiche der Eindeutigkeit der Moral: hier die bösen Weissen, dort die guten Schwarzen.

Eine weitere Ursache für den neuen Antisemitismus sieht Illouz darin, dass die Juden wegen der Shoah nicht nur eine geschützte Minderheit darstellten. Sie seien auch eine «dominante Minderheit»: Dank ihrer Flexibilität in der Diaspora schufen sie – durch Anpassung an die jeweilige Gesetzgebung ihres Gastlandes – die Grundlage für den sozialen Aufstieg. Diese erfolgreiche Assimilierung weckte nach Illouz Neid und Hass bei anderen Minderheiten wie Schwarzen oder Muslimen. Dies sei mit ein Grund gewesen für die Schadenfreude und Euphorie nach dem Massaker.

Illouz versteht sich selbst als Linke. Doch für die Verdrehung von Recht, Unrecht, Moral und Gewalt hat sie kein Verständnis. Wenn die Linke als humanistisches Projekt überleben wolle, schreibt sie, müsse sie ihre Gewissheiten infrage stellen. Und sich auf die demokratischen Tugenden der Wahrheit besinnen. «Es wäre eine Katastrophe für die Demokratie auf der ganzen Welt», so beschliesst Eva Illouz ihr Buch, «wenn die Linke sich beim Urteil des Salomo für die Mutter entschiede, die das Kind lieber zweiteilen würde.»

Eva Illouz: Der 8. Oktober. Aus dem Französischen von Michael Adrian. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025. 102 S., Fr. 18.90.

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