Freitag, Oktober 18

Die einen fliegen in die Wärme, Stephan Vogt geht dorthin, wo es kälter als minus dreissig Grad wird. Er sucht Senken in den Bergen, in denen sich Kaltluft sammelt. Was reizt ihn an diesem Hobby? Und was macht es mit ihm, dass das Reich der Kälte allmählich untergeht?

Wenn in seinem Gesicht Eiskristalle wachsen, dann ist Stephan Vogt im Element. Minus 17,4 Grad zeigte das Handthermometer an diesem Januarmorgen an diesem gottverlassenen Ort in der Ostschweiz. Schritt für Schritt stapfte der 49-Jährige durch den Tiefschnee. Sein Ziel war der tiefste Punkt der Alp Hintergräppelen – eine Senke, in der sich die Schweiz ein bisschen wie Sibirien anfühlt. Mit jedem Schritt rauschte das Thermometer weiter nach unten.

Das Element, das Stephan Vogt in aller Früh so gerne und immer wieder aufsucht, ist die klirrende Kälte. Andere fliegen ins Warme, Stephan Vogt geht lieber dorthin, wo es selbst für kältegewöhnte Schweizer etwas zu schattig ist.

Seine Leidenschaft gehöre den Kaltluftseen, erzählt er später in einem gut beheizten Café in Zürich. Damit sind alle Senken in den höher gelegenen Bergregionen gemeint, in denen sich die Kaltluft wie in einer Badewanne sammeln kann. Minus dreissig Grad werden es in diesen speziellen Hochtälern der Alpen fast jeden Winter.

Was reizt ihn an diesem eiskalten Hobby? Und was macht es mit ihm, dass das Reich der Kälte allmählich untergeht?

Stephan Vogt ist Klimatologe von Beruf, bei Meteo Schweiz arbeitet er im Bereich Messung und Daten. Kryophil hat er sich in den sozialen Netzwerken genannt: kälteliebend. Sein Hobby ist selbst für Wetterverrückte ungewöhnlich. Die meisten jagen Gewittertürmen hinterher oder suchen den Kick im Schneesturm. Vogt hat ein Faible für die stillen, langsamen Prozesse, die die Kälte formt. Er erfreut sich an der Formenvielfalt der Eiskristalle und daran, wie sie blitzen, wenn die ersten Sonnenstrahlen auf das Hochtal fallen.

So war es auch an diesem Januarmorgen bei seinem Besuch in Hintergräppelen im Toggenburg, wie er erzählt. Es war noch dunkel, als er sein Auto auf einem Parkplatz in Alt St. Johann abstellte. Den Kaltluftsee musste er zu Fuss erreichen. Erst kam ein längerer Aufstieg, dann ein kleiner Abstieg ins eigentliche Kältetal, und dann ging es wieder zurück, immer in Schneeschuhen. Vogt darf in der extremen Kälte keinen Fehler machen, denn meist ist er allein unterwegs.

Die Ausrüstung ist stets sorgsam ausgewählt. Auf seinen Touren trägt er gerade so viel Kleidung auf dem Körper, dass er nicht stark friert. Nicht zu eng sollten die Schichten aufgetragen sein, damit sich eine natürliche Isolationsschicht bilden kann. Und schwitzen wie ein Pferd sollte er beim Anstieg besser auch nicht. Baumwolle ist deshalb tabu, alles, was nass wird, ist gefährlich.

Das Kälteerlebnis wurde immer seltener

Vogt ist ein Kind der Achtziger und der grossen Schneewinter. Er wuchs in Frauenfeld im Thurgau auf und erinnert sich gut an die hochnebelbetrübten Wintertage. Erst mit dem Schnee kam das Licht in die Landschaft, und er dämpfte die Welt. Mit neun baute Vogt sich seine erste kleine Wetterstation im Garten auf, las Bücher über das Wetter. Im Januar 1985 mass er eine Rekordkälte von minus 25 Grad, da war es um ihn geschehen.

Doch das grossartige Kälteerlebnis kam in den Folgejahren immer seltener, die Winter wurden wärmer, Schnee wurde zur Ausnahme. Auch deshalb machte er sich irgendwann auf die Suche nach der Kälte und stöberte auf topografischen Karten der Schweiz systematisch nach geeigneten Senken.

Vor acht Jahren stellte er am Sämtisersee bei Brülisau seine erste Wetterstation in einem Kaltluftsee auf, Hintergräppelen folgte wenige Monate danach. Heute betreibt er vier Wetterstationen in der Schweiz. Beruf und Hobby habe er immer klar getrennt, sagt er. Die Ausflüge seien reines Privatvergnügen.

In Hintergräppelen tauchte Stephan Vogt irgendwann in den Kaltluftsee ein. Wenige Meter trennten ihn noch von seiner Wetterstation an der tiefsten Stelle auf 1290 Meter Höhe. Wie kalt es geworden war, merkte er an Kleidung und Material. Alles war steif und knisterte wie Plastik. Dann erreichte er die Wetterstation. Er streifte seine Handschuhe ab, schloss den Laptop an und zog die Daten rüber.

Ein Blick auf sein Handthermometer zeigte ihm, warum Eile geboten war: Auf minus 30,2 Grad war die Temperatur in wenigen Minuten gesackt. Oben am Hang waren es noch gemütliche minus 7,6 Grad.

30 Grad Unterschied zwischen oben und unten sei bei Kaltluftseen nichts Ungewöhnliches, sagt Vogt. «Kaltluft verhält sich wie Wasser», sie fliesse – der Schwerkraft folgend – von den Hängen nach unten und sammle sich im Becken. Damit wird es in Hochtälern deutlich kälter als auf den höher gelegenen Gipfeln. Meteorologen sprechen von einer Inversion, also einer Temperaturumkehr. Denn normalerweise wird es mit der Höhe immer kälter, um 0,7 Grad pro hundert Meter.

Kaltluftseen haben ein Eigenleben

Ein Kaltluftsee ist eine extreme Form der Inversion, er entkoppelt sich von der Atmosphäre und entwickelt ein Eigenleben, produziert seine Kälte also selbst. Das geschieht nicht nur im Winter, sondern zu allen Jahreszeiten. Damit er sich bilden kann, müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein: kein Wind, keine Wolken, dafür frisch gefallener Schnee und trockenkalte Luft.

Eine Sonderrolle nimmt frisch gefallener Schnee ein: Er schützt den Kaltluftsee tagsüber vor Erwärmung und Auflösung, indem er die Sonnenstrahlen reflektiert, und er unterbindet den nach oben gerichteten Bodenwärmestrom und fördert die Abstrahlung, indem er das bisschen Wärme, das in der Schneedecke steckt, effizient abgibt.

Seine idealen Abstrahlungseigenschaften sind es, die die Wärme rasch entweichen lassen. Am besten eignet sich fluffiger Neuschnee, dreissig Zentimeter und mehr seien ideal, sagt Stephan Vogt. Für extreme Kälte im Winter sollte zuvor zudem arktische Luft eingeflossen sein. Dann startet die Kälteproduktion bereits bei niedrigem Ausgangsniveau.

Es gibt offene Senken und geschlossene. Letztere sind für Extremwerte geeigneter, da die Kaltluft nicht abfliessen kann. Zudem beeinflusst die Höhenlage einer Senke die Tiefstwerte, ihre Fläche, Tiefe und Mächtigkeit spielen nur eine untergeordnete Rolle. Dass eine Senke nicht besonders tief sein muss, um arktische Luft zu produzieren, beweist die Glattalp im Kanton Schwyz. Anfang Februar 1991 wurde hier mit minus 52,5 Grad der tiefste Wert der vergangenen Jahrzehnte in der Schweiz gemessen.

Minus 42,4 Grad im Berner Oberländer Sägistal

Studien zeigen, dass ein hoher Sky-View-Faktor die beste Erklärung für extreme Temperaturen liefert. Mit diesem Wert geben Meteorologen an, wie viel vom Himmel von einem Ort aus sichtbar ist. Senken, in denen viel vom Himmel zu sehen ist, bilden kältere Kaltluftseen aus, weil die Wärme nachts dadurch besser entweichen kann.

Bei seiner Suche nach neuen Kaltluftseen schaut Stephan Vogt deshalb vor allem auf diesen Parameter. Hintergräppelen ist sein Fund, minus 38,2 Grad hat er hier im eisigen Januar 2017 gemessen, kurz nachdem er die Station errichtet hatte. Vielversprechender ist nur der Kaltluftsee im Sägistal im Berner Oberland, den er vor 2022 in sein Messnetz aufnahm.

Als dort vor einem Jahr das Thermometer auf minus 42,4 Grad abrutschte, war der Ort sofort in den Schlagzeilen. Neuer Kälterekord in der Schweiz, hiess es. Denn der offizielle Kälterekord der Schweiz beträgt minus 41,8 Grad, gemessen in La Brévine im Neuenburger Jura, einem weiteren Kaltluftsee.

Doch die Sache ist die: Da seine Stationen nicht dem offiziellen Messnetz angehören, liefern sie auch keine offiziellen Werte und deshalb keinen offiziellen Kälterekord. Das heisse nicht, dass er falsch gemessen habe – im Gegenteil: Mit seinen Stationen komme er den Anforderungen ziemlich nah, sagt Vogt.

Grundsätzlich berührt die Debatte über neue Kälterekorde aber vor allem die Frage, ob ein isolierter und unbewohnter Kaltluftsee mit seinem Mikroklima überhaupt als repräsentativer Standort geeignet ist. Offizielle Stationen sollten im besten Falle vielen Zwecken dienen und typisch für ein grösseres Gebiet sein. Das ist bei Kaltluftseen nur bedingt der Fall.

Für die Geschichtsbücher betreibt Stephan Vogt den Aufwand ohnehin nicht. Und es beelendet ihn, wenn seine Kältewerte missbraucht werden, um damit den Klimawandel zu leugnen. Wie mild allein die Winter geworden sind, weiss kaum einer besser als er. Erschreckend sei das, sagt er. Schon deshalb geniesse er jeden Kälteeinbruch, «als ob es der letzte wäre».

Magisch sind seine Ausflüge, vor allem in der Finsternis. Vor zwei Jahren brach er einmal an einem Abend auf, um eine Vollmondnacht in Hintergräppelen zu erleben. Als er in den Kaltluftsee eintauchte, stand der Mond schon über dem Tal, erinnert er sich. Das fahle Licht verwandelte das eiskalte Tal in eine weisse Glitzerwelt, Kälte floss wie Honig den Hang hinab. Das war der Moment, in dem Stephan Vogt das Kältetal hören konnte. Es klang wie dunkler Jazz.

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