Donnerstag, Oktober 10

Kolonialismus und Widerstand sind die Schlüsselwörter, mit denen Rashid Khalidi den Nahostkonflikt erklärt. Die Erzählung des palästinensisch-amerikanischen Historikers ist griffig, die Analyse macht er sich zu einfach.

Mit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel ist der Konflikt im Nahen Osten in eine neue Phase getreten. Mehr als tausend Menschen kamen bei der Terrorattacke ums Leben. Der Krieg, der danach aufflammte, hat ein Mehrfaches an Opfern gefordert. Eine Chance für eine friedliche Beilegung der jahrzehntelangen Kämpfe ist zurzeit nicht zu erkennen.

Der an der Columbia University in New York tätige amerikanisch-palästinensische Historiker Rashid Khalidi, für die Palästinenser eine wissenschaftliche Autorität, fragt in seinem jüngsten Buch nach den historischen Ursachen des Konflikts. Er zeichnet ihn anhand von sechs Etappen nach. Etappen, die er als «Kriegserklärungen» des Zionismus bezeichnet. Der erzählerische Charakter macht die Darstellung anschaulich, immer wieder nimmt Khalidi Bezug auf Erlebnisse seiner Familienmitglieder. Die nüchterne Analyse der historischen Vorgänge bleibt dabei allerdings auf der Strecke.

Die Erklärung des britischen Aussenministers Arthur J. Balfour vom 2. November 1917 ist für Khalidi der Beginn der ersten Etappe, die er bis 1939 andauern lässt. In der Deklaration plädierte Balfour für eine «nationale Heimstätte» des jüdischen Volkes in Palästina. Grossbritannien habe damals massiv die Einwanderung jüdischer Siedler zulasten der arabischen Bevölkerung unterstützt, kritisiert Khalidi. Die zweite Phase (1947–1948) betrifft den Uno-Teilungsbeschluss, den Palästina-Krieg mit dem Sieg Israels, dessen Staatsgründung sowie die als «Nakba» (arabisch für «Katastrophe») in die Geschichte eingegangene Vertreibung der Palästinenser.

Selektive Wahrnehmung

Schon da muss man die ersten Einwände erheben. Khalidi berücksichtigt bei seiner Kritik an den Zionisten zu wenig das Uno-Votum für eine israelische Staatsgründung nicht zuletzt aufgrund des Holocaust. Der Sechstagekrieg von 1967, er steht für die dritte Phase, war laut Khalidi kein Präventivkrieg, da für Israel keine Gefahr bestanden habe. Zur vierten «Kriegserklärung» zählt er die Intervention Israels 1982 in Libanon. Das Ziel, so der Autor: die Zerschlagung der PLO.

Der Aufstand 1987, die Intifada, der Beginn der fünften Phase, hat zwar die Situation der Palästinenser diplomatisch verbessert, aber Khalidi beklagt die Zustimmung ihrer Führung zu dem Osloer Vertragswerk. Die sechste Phase (2000–2014) umfasst die zweite Intifada, den Rückzug Israels aus dem Gazastreifen sowie die dortige Kontrolle durch die Hamas. Der Autor wirft den USA vor, die Hamas nicht in die Verhandlungsprozesse einbezogen zu haben. Khalidi ist im Gefolge des oft zitierten Edward Said ein Repräsentant des postkolonialistischen Diskurses.

Wer von sechs «Kriegserklärungen» spricht, muss den Vorwurf der selektiven Wahrnehmung hinnehmen. Zum einen war Israel in den genannten Etappen keineswegs beständig in der Offensive, zum anderen fallen weitere Zäsuren unter den Tisch. Etwa der von Ägypten und Syrien ausgelöste Jom-Kippur-Krieg 1973.

Doppelte Standards

Für Khalidi ist die Sache einfach: Israel agiert, die palästinensische Seite reagiert. Dieses Schwarz-Weiss-Bild wird der komplexen historischen Realität allerdings nicht im Geringsten gerecht. Khalidi geht von verzerrten Vorstellungen aus: Einerseits wird die beständige militärische und politische Übermacht Israels betont – und damit, nur umgekehrt, dem israelischen «David gegen Goliath»-Mythos gehuldigt –, andererseits wird der «aufopferungsvolle Kampf» der Palästinenser gewürdigt.

Gewiss, der Autor präsentiert bisher nicht erschlossenes Archivmaterial und bietet einen in den Details so nicht bekannten historischen Abriss. Doch neben der Bestandsaufnahme kommt die Analyse zu kurz. Mit der Publikation des Buches gibt der Verlag der deutschsprachigen Leserschaft Gelegenheit, die Position eines dezidierten Fürsprechers der Palästinenser kennenzulernen. Doch die Lektüre des griffig formulierten Werkes zeigt letztlich nur, wie selbst ein renommierter Gelehrter einer fairen Sichtweise entsagen kann: Die Kritik am Verhalten der Palästinenser fällt halbherzig aus, die an jenem der Israeli meist vollmundig.

Für die deutsche Ausgabe des bereits 2020 in englischer Sprache publizierten Werkes steuert Khalidi ein ausführliches Nachwort bei. Er spricht von Israels militärischem Versagen beim Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023. Liegt durch diese Interpretation nicht eine Täter-Opfer-Umkehr vor? Der Verfasser wendet sich entschieden gegen die These, Opposition gegen den Zionismus als antisemitisch zu klassifizieren. Der Vorwurf des «Doppelstandards» fällt auf ihn selbst zurück.

Zwei Staaten

Khalidi spricht, schon im Titel des Buchs, von einem «hundertjährigen Krieg». Der Hundertjährige Krieg im 14. und 15. Jahrhundert endete nach verschiedenen Rückschlägen mit einem Sieg Frankreichs, das die Engländer aus den heimischen Gefilden vertreiben konnte. Ob der Titel deswegen derart suggestiv gewählt wurde?

Im Palästinakonflikt geht es, wie im mittelalterlichen Frankreich, um die Herausbildung zweier Staatswesen. Das lässt Khalidi manchmal am Rand anklingen. Weitergeführt wird der Gedanke allerdings nicht. Zu Unrecht, denn diese Sichtweise umreisst das Problem präziser und bietet mit Blick auf eine Lösung wichtigere Perspektiven als der ständige Verweis auf den zionistischen Kolonialismus.

Rashid Khalidi: Der hundertjährige Krieg um Palästina. Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand. Unionsverlag, Zürich 2024. 379 S., Fr. 36.–.

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