Joseph Spring wurde 1943 von Schweizer Grenzwächtern dem Nazi-Regime ausgeliefert und landete in Auschwitz – nun ist er kurz vor seinem 98. Geburtstag gestorben.
Die Welt interessiert höchst selten, was am Bundesgericht entschieden wird. Doch am 21. Januar 2000, fast auf den Tag genau vor 25 Jahren, macht ein Urteil international Schlagzeilen: Es ist der Fall «Joseph Spring gegen die Schweizerische Eidgenossenschaft». Der Kläger ist ein über 70-Jähriger aus Australien, der in die Abgründe der Menschheit geblickt hat und nun in Lausanne vor Gericht sagt:
«Eine Entschuldigung mag genügen, wenn jemand einer Dame beim Tanz aus Versehen auf die Zehen tritt. Es ist aber etwas anderes, wenn man durch die aktive Mitarbeit von Schweizer Grenzorganen in den Tod geschickt wird: Dafür erwarte ich Gerechtigkeit, nicht eine Entschuldigung. Gerechtigkeit heisst in meinem Fall, dass es anerkannt wird, dass an mir ein Verbrechen begangen worden ist.»
Der Fall des Joseph Spring ist nicht nur eine persönliche Tragödie. Er steht auch für das Verhalten der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs oder genauer: ihr Versagen in der Flüchtlingspolitik – und ihre Mühen, dies später zu anerkennen.
«Nur aus Rassegründen»
Joseph Spring, ein 1927 in Berlin geborener Jude, flüchtet vor den Nazis zunächst nach Belgien, taucht dann mit falschen Papieren in Frankreich unter, bis er sich in die Schweiz retten will. Zusammen mit zwei Cousins – der eine noch minderjährig wie Spring, der andere schwer tuberkulosekrank – überquert er am 13. November 1943 bei La Cure im Waadtländer Jura die Grenze. Doch sie werden von einem Bauern an die Grenzwächter verpfiffen, die ihre Personalien aufnehmen und sie wieder auf französisches Territorium jagen. Zwei Tage später versuchen sie es erneut – und werden wieder entdeckt. Die Schweizer Beamten kennen kein Pardon, auch wenn die Aufgegriffenen ihre Notlage schildern, ja sogar die in den Rucksäcken eingenähten, richtigen Pässe zeigen, die sie als Juden ausweisen.
Die Befehle aus Bern sind klar: «Flüchtlinge nur aus Rassegründen, z. B. Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge», dies hat Heinrich Rothmund, der Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei, im Sommer 1942 verfügt. Obwohl da bereits bekannt ist, dass die Nazis massenhaft Juden in Lager im Osten deportieren. Keine Rolle spielt auch, dass die deutschen Truppen im Herbst 1943 schon in der Defensive sind.
Bei Joseph Spring und seinen Begleitern belassen es die Grenzwächter nicht mehr bei einer Überstellung nach Frankreich: Sie werden direkt der Gestapo übergeben und als Juden denunziert. Es folgt die Deportation nach Auschwitz, wo Springs Cousins noch am Tag ihrer Ankunft vergast werden. Er wird als Zwangsarbeiter geschunden, überlebt aber alle Selektionen, einen Todesmarsch und ein weiteres Lager, bis er im April 1945 bei Magdeburg von den Amerikanern befreit wird.
Er wandert nach Australien aus, gründet eine Familie, betreibt in Melbourne ein kleines Reisebüro. Und erfährt 1997 zufällig, dass sich die Regierung von Basel-Stadt bei einem einst an die Nazis ausgelieferten Holocaust-Überlebenden namens Eli Carmel entschuldigt und eine Entschädigung gezahlt habe. Er nimmt mit dessen Anwalt, dem Schweizer SP-Politiker Paul Rechsteiner, Kontakt auf, der ihn fortan vertritt. Mitten in der Debatte um nachrichtenlose Vermögen und die «Schatten des Zweiten Weltkriegs» richtet Spring ein Schadenersatzbegehren an die Eidgenossenschaft: Die Grenzbehörden hätten damals gegen «fundamentale Prinzipien der Menschlichkeit verstossen».
Selbstamnestierung der Schweiz?
Doch der Bundesrat zeigt wenig Sensibilität und Mut: Mit vier zu drei Stimmen (Ruth Dreifuss, Pascal Couchepin, Moritz Leuenberger) lehnt er das Begehren ab. Er spricht lediglich sein «tief empfundenes Mitgefühl und Bedauern» aus. Offenbar will man weder eine Vorgängerregierung verurteilen noch sich dem Vorwurf aussetzen, ausländischem Druck nachzugeben. Auch wird ein Präzedenzfall befürchtet. Doch wie viele der von der Schweiz Abgewiesenen überlebten den Holocaust? Die grosse Mehrheit wurde in den sicheren Tod geschickt.
Die Medien kritisieren den Entscheid fast unisono. «Mitleid, aber keinen Rappen für Spring», schreibt etwa die «Tribune de Genève». Bürgerinnen und Bürger lancieren eine Spendenaktion. Doch Joseph Spring meldet aus Australien: Es gehe ihm darum, «Gerechtigkeit zu erwirken. Ich bin, Gott sei Dank, nicht auf Spenden angewiesen, so sehr mich die Gesten der Schweizer Bevölkerung auch berühren.»
Und so zieht er vor Bundesgericht. Eine unrühmliche Rolle spielt das Eidgenössische Finanzdepartement, das Springs Darstellung mit Falschbehauptungen infrage stellt und gar ein Gutachten aus dem Bundesarchiv zurückbehält. Dabei hat sein Vorsteher Kaspar Villiger noch 1995 als Bundespräsident in einer Rede betont: «Es steht ausser Zweifel, dass wir mit unserer Politik gegenüber den verfolgten Juden Schuld auf uns geladen haben.»
Die Lausanner Richter lehnen die Klage Springs ab. Die Sache sei verjährt, und es habe damals ohnehin kein Recht auf Asyl gegeben, die Auslieferung sei also rechtens gewesen. Springs Anwalt Rechsteiner spricht von einer zynischen «Selbstamnestierung des Schweizer Staats». Als Kuriosum geht das Urteil in die Schweizer Rechtsgeschichte ein, weil das Bundesgericht Joseph Spring angesichts der «menschlichen Tragik» und gegen alle Usanzen eine Prozessentschädigung zuspricht – in der Höhe der als Schadenersatz geforderten 100 000 Franken.
Spring nennt es «eine Art Zugeständnis». Er habe zwar Geld erhalten, aber verloren. Es sei ihm um die Anerkennung des an ihm und seinen Cousins begangenen Unrechts gegangen. 2003 erscheint unter dem Titel «Die Rückkehr» seine Lebensgeschichte, geschrieben vom Historiker Stefan Keller. «Die Leute sollen nicht vergessen», sagt Joseph Spring. Das sei das Wichtigste. Am 8. Januar ist er in Melbourne gestorben, kurz vor seinem 98. Geburtstag.