Bis vor kurzem galt das Zweistromland als Hölle auf Erden. Jetzt kann man dort Ferien machen. Lohnt es sich?
Da könne man leider nichts machen, sagt der Wachmann in der hellbraunen Uniform und schaut wieder auf sein Handy. Er sieht sehr gelangweilt aus. Die Sonne brennt, obwohl erst Frühling ist. Bagdad wirkt ruhig an diesem Morgen. Es ist Ramadan, der heilige Fastenmonat. Aber das ist nicht der Grund, weshalb das Nationalmuseum des Iraks heute geschlossen ist. «Wir renovieren», sagt der Wachhabende. «Damit das Museum für Touristen noch schöner wird.»
Der Irak ist alles andere als ein Ferienland. Jahrzehntelang galt der Ölstaat als Hölle auf Erden, als ein Ort, wo fanatische Milizen aufeinander losgingen, täglich Autobomben explodierten und Islamisten Ausländer in orangefarbene Overalls steckten, um sie vor laufender Kamera zu köpfen. Wer sich nach Bagdad verirrte, sass meist hinter riesigen Schutzwänden aus Beton, bewacht von grimmigen Männern mit Maschinenpistolen, und traute sich nur im gepanzerten Fahrzeug nach draussen.
Jetzt soll alles anders werden. Nach Jahren des blutigen Irrsinns herrscht in Bagdad mittlerweile so etwas wie Stabilität. Deshalb hat die Regierung des ehemaligen Chaos-Landes jetzt Grosses vor: Der Irak soll zur Tourismusdestination werden. Das Potenzial dafür ist vorhanden. Schliesslich liegt in Mesopotamien die Wiege der Zivilisation. Hier wurde der Ackerbau erfunden. Sumerer, Babylonier und Araber schufen grosse Reiche.
Trotz Chaos und der lange vorherrschenden Gewalt verfügt das Land über 12 000 von der Unesco gelistete Stätten – darunter die Ruinen von Babylon, Ur und die angeblichen Überreste der hängenden Gärten, eines der sieben Weltwunder. Die Iraker sind unendlich gastfreundlich. Zudem ist Bagdad kürzlich zur arabischen Tourismushauptstadt 2025 ernannt worden. Die Regierung hat ein elektronisches Visum eingeführt. Aber lohnt es sich, im Irak Ferien zu machen?
Bagdad: ein grosses Abenteuer
Ahmed Qutaiba schliesst seinen Wagen auf. Es ist ein feuerroter Dodge Charger, wie aus den «Fast and Furious»-Filmen. Aber statt Autorennen zu fahren, kutschiert er mit dem Geschoss Touristen durch Bagdad. Früher arbeitete er bei der Hilfsorganisation Oxfam. Jetzt kann man ihn für 250 Dollar pro Tag als Stadtführer buchen. «Ich komme damit gut über die Runden», sagt er. «Kürzlich hatte ich eine Reisegruppe aus Rumänien. Da musste ich sogar einen Bus mieten.»
Ahmed lenkt den Wagen durch das Chaos des Bagdader Stadtverkehrs, stets darauf bedacht, das teure Fahrzeug nicht zu beschädigen. Draussen fliegen vierspurige Autobahnen, gesichtslose Betonklötze und brutalistische Prachtbauten aus der Zeit des Diktators Saddam Hussein vorbei. Schön ist Bagdad nicht. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Die 6-Millionen-Metropole wirkt, als habe man die finstere Dystopie aus dem Film «Blade Runner» in die Wüste verlegt.
Bagdad habe Schreckliches hinter sich, sagt Ahmed, dessen Vater einst unter Saddam Geheimdienstoffizier war. Nachdem der Diktator 2003 von den Amerikanern gestürzt worden war, brachten sich schiitische und sunnitische Extremisten hier gegenseitig um und massakrierten die Zivilbevölkerung. Doch nachdem die Stadt 2015 einen Angriff des Islamischen Staates zurückgeschlagen hatte, hat der Wind gedreht. Inzwischen wird in Bagdad wieder gebaut. Kräne ziehen neue Hochhäuser empor, überall entstehen Schnellstrassen.
Im alten Stadtzentrum hat die Regierung die berühmte Mutanabbi-Strasse renoviert. Hier werden seit Jahrhunderten Bücher verkauft. Früher, in den sechziger Jahren, war Bagdad eine der kulturellen Hauptstädte des Nahen Ostens. Davon ist nur noch wenig übrig, der Blutrausch der letzten Jahre hat viele in die Flucht getrieben. Trotzdem begegnet man auf der Mutanabbi immer noch Intellektuellen. Sie tragen Dreireiher, Brillen und haben Bücher und Zeitungen unter den Arm geklemmt – als würden sie ihre eigene Rolle nachspielen.
Die Iraker sind stolz auf ihre Vergangenheit. «Hier war einmal eine der wichtigsten Schulen der Welt», sagt Ahmed, als er den Dodge in der Gasse vor der Muntassir-Madrassa abstellt. Vor dem frisch renovierten, aber komplett leeren Gebäude aus dem zwölften Jahrhundert sitzen ein irakischer Wachmann und ein Schwede namens Marcus, mit weissen Zähnen und bunten Tätowierungen auf den Armen. Er sei mit seinem Bus von Stockholm über Land hierhergefahren, sagt er. «Das Land ist wunderbar, es ist unberührt. Ein grosses Abenteuer.»
Kerbala: die Heiligen und die Trinker
Von seinem Büro aus wacht Imad Najim über die grosse Moschee. Er sei hier für die Sicherheit zuständig, sagt der junge Mann. Über die paar Abenteurer und vereinzelten Reisegruppen, die sich neuerdings in den Irak verirren, kann er nur lachen. Denn der ehemalige Kämpfer einer Schiitenmiliz, der vor zehn Jahren gegen den Islamischen Staat in die Schlacht gezogen war, arbeitet für eines der wohl grössten Touristikunternehmen der Welt: die Schreine von Kerbala.
In der Provinzstadt, rund anderthalb Autostunden von Bagdad entfernt, stehen die Grabmäler der Imame Hussein und Abbas. Die gewaltigen Moscheen mit ihren Kristalllüstern gehören zu den wichtigsten Heiligtümern der schiitischen Muslime. Von überall her strömen sie nach Kerbala oder ins benachbarte Najaf, wo mit Imam Ali ein weiterer Glaubensführer aus der Frühzeit des Islam begraben liegt. Die Pilgerstätten im Zentrum des Iraks gehören zu den am meisten besuchten Orten der Welt.
Während des für die Schiiten heiligen Monats Ashura und des darauffolgenden Arba’in-Fests kommen jedes Jahr rund zwanzig Millionen Besucher hierher. Ein schiitischer Bekannter aus Libanon nannte die Massenwallfahrt einmal scherzhaft «den grössten Rave der Welt». Die Gläubigen gedenken dem Opfertod Husseins, der im Jahr 680 in der Schlacht von Kerbala ums Leben kam und seither als Märtyrer verehrt wird. Im Schrein sieht man deshalb Männer, die weinend zusammenbrechen oder einfach auf dem Boden sitzen und entrückt ins Nichts starren.
Draussen geht es weltlicher zu. Auf den Strassen, die auf die Sakralbauten mit ihren goldenen Kuppeln zuführen, verkaufen Händler von religiösen Devotionalien über Kleider bis hin zu Mobiltelefonen so gut wie alles. Längst seien die Stiftungen rund um die Schreine zu riesigen Wirtschaftsunternehmen geworden, sagt Imad, der Sicherheitschef. Man investiere in Kerbala, baue Hotels und Restaurants. Der religiöse Goldrausch führt aber auch zu Konflikten. So haben die Iraner immer mehr Geld nach Kerbala gepumpt, um Einfluss zu erlangen.
Früher galt der Irak als säkulares Land, dessen Herrscher Saddam Hussein die Whisky-Marke «Johnnie Walker» als Nationalgetränk bezeichnete. Inzwischen sind die Sitten strenger geworden – und das nicht nur in Kerbala. In jüngster Zeit ging die Regierung gegen den Alkoholverkauf vor und schloss die meisten Bars in Bagdad. Seither trinken die Iraker zu Hause, fahren in die liberalen Kurdengebiete im Norden oder versacken in einer der wenigen Hotelbars der Hauptstadt, die noch offen sind.
Wie das «Happy Times» im Hotel Palestine, wo üppig geschminkte Frauen Zahnputzgläser voller Schnaps ausschenken und Männer mit Saddam-Schnurrbärten Bündel voller falschem Geld in die Luft werfen. In der benachbarten «American Bar» im Bagdad Hotel sitzt ein selbsternannter Schriftsteller am Tresen und kommentiert den jüngsten Feldzug gegen die Sünde mit den Worten: «Der Irak hat die Hölle hinter sich. Wir waren komplett irr. Jetzt sehnen wir uns nach frommer Spiessigkeit.»
Basra: Der Irak ist ein fragiles Gebilde
Der Nachtzug von Bagdad nach Basra braucht fast zwölf Stunden für rund fünfhundert Kilometer. Gemächlich rattert die Dieselkomposition aus chinesischer Produktion durch das topfebene Land, von der Hauptstadt hinunter in den tiefen Süden Iraks, vorbei an spärlich erleuchteten Häusern und finsteren Steppen. Der Bombardier-Regionaljet der Iraqi Airways schafft dieselbe Distanz in knapp fünfzig Minuten.
Trotzdem ist Badr stolz auf den Zug. Der Mann mit randloser Brille, der gemeinsam mit ein paar Polizisten im Speisewagen sitzt, raucht und Tee trinkt, arbeitet seit 32 Jahren als Zugchef. «Wir sind fast immer gefahren, auch im Krieg», sagt er. «Der Zug ist ein Symbol für den Widerstandswillen der Iraker. Jetzt hoffen wir auf Besucher aus dem Ausland.» Später zeigt der siebenfache Vater den anderen Eisenbahnangestellten Fotos von seinem Männertrip nach Libanon. Auf den Bildern sieht man ihn mit ein paar Frauen in Bikinis im Pool eines heruntergekommenen Strandklubs. Man müsse das Leben geniessen, sagt er.
Im Irak war das lange Zeit keine Selbstverständlichkeit. Während der finsteren Jahre des Bürgerkriegs und der IS-Invasion verschanzten sich viele Iraker in ihren Häusern. Jeder Gang nach draussen war lebensgefährlich. Jetzt, da im Land einigermassen Stabilität herrscht, gehen die Leute umso mehr hinaus. Als müssten sie die verlorene Zeit aufholen. In Bagdad sind die Restaurants deshalb voll, auf den Strassen flanieren bis spät in der Nacht die Menschen.
Auch gereist wird wieder. Im Nachtzug nach Basra sitzen Soldaten auf Heimaturlaub, eine russische Kunst-Kuratorin auf Nahosttrip und eine Familie, die das Zuckerfest nutzt, um die Verwandtschaft in Basra zu besuchen. «Ich war noch nie dort», sagt Ali, der älteste Sohn. Aber eigentlich träumt er von etwas ganz anderem. «Am liebsten möchte ich nach Amerika. Aber es ist unmöglich, ein Visum zu bekommen.»
In Basra zeigt sich, wie tief der Wunsch nach Normalität geht. Die Stadt, die bis vor kurzem noch als völlig heruntergekommen galt, ist inzwischen aufgehübscht worden. An der Corniche am Schatt-al-Arab, wo die Flüsse Euphrat und Tigris in den Persischen Golf münden, spazieren Familien über frisch gepflasterte Strassen. In der Altstadt hat die Unesco ein paar der alten Häuser renoviert. Inzwischen gibt es sogar ein kleines historisches Museum und ein Fünf-Sterne-Hotel, wo eine belgische Touristengruppe untergekommen ist.
Gleichzeitig hängen in den Strassen Bilder von gefallenen Kämpfern. Die umliegenden Ölfelder, die die Grundlage für den Reichtum des Iraks bilden, verpesten die Luft. Im Sommer ist es derart heiss, dass sogar Verkehrspolizisten tot umkippen. Der Klimawandel bedroht auch die nah gelegenen Marschen, jene gewaltigen Sümpfe mit ihren Wasserbüffeln und unendlichen Wäldern aus Schilf. Der Irak sei ein fragiles Gebilde, sagt Amir – ein Umweltexperte, der dort Ökotourismus betreiben will –, während er in einem Boot über das Wasser der Marschen gleitet. Man müsse ihn daher besuchen, solange es noch gehe.