«Misty» ist Erroll Garners berühmteste Komposition – und nun auch der Titel eines atmosphärischen Dokumentarfilms, den Georges Gachot dem unvergleichlichen Jazzmusiker gewidmet hat.
Seine Hände arbeiteten scheinbar unabhängig voneinander. Zwei gegensätzliche Charaktere, hätte man meinen können. Denn während Erroll Garners Linke in den Tiefen der Klaviatur in die Akkorde donnerte oder die Bässe hüpfen liess, kokettierte seine Rechte mit melodiöser Grazie; sie strich bisweilen über die Tasten hinweg wie über Saiten. In ihrer gegenseitigen Ergänzung aber verwandelten die zehn Finger ein Piano in ein Orchester.
Dem Pianisten Erroll Garner, der sich Mitte der 1950er Jahre zu einem unvergleichlichen Jazzstilisten entwickelte, hat der Schweizer Regisseur Georges Gachot das Filmporträt «Misty» gewidmet. Hier sieht man den Afroamerikaner stets mit so grossem Körpereinsatz spielen, dass der Schweiss perlt auf seiner Stirn. Ehemalige Mitmusiker behaupten in den aktuellen Interviews des Films gar, er habe auch Tränen vergossen vor Leidenschaft und Engagement. Das lässt sich auf den historischen Konzertaufnahmen allerdings nicht nachvollziehen. Während seine Hände tanzen und wirbeln, strahlt der kleine Mann mit Schnauz, Kinnbart und streng nach hinten gekämmter Pomade-Frisur vielmehr fröhlich in die Kamera.
Flug durch den Nebel
Mit dem Filmtitel erinnert Georges Gachot an Erroll Garners berühmteste Komposition: Das Stück «Misty», das längst in den Kanon der beliebtesten Jazzstandards eingegangen ist, soll er 1954 während eines Flugs von San Francisco nach Chicago geschrieben haben – an einem besonders nebligen Tag.
Irgendwie passt der Nebel auch zu Erroll Garner selbst: Seine Persönlichkeit blieb durch seine musikalische Bravour mystisch verschleiert. Um dem Künstler, der 1921 in Pittsburgh geboren wurde und 1977 in Los Angeles starb, auf die Schliche zu kommen, hat Gachot nun mit unterschiedlichen Menschen aus Garners musikalischem und familiärem Umfeld gesprochen. Ihre Schilderungen werden mit historischen Filmdokumenten sowie poetischen Filmaufnahmen von der Stadt Pittsburgh ergänzt. Der Soundtrack wird von der Musik Erroll Garners bestimmt. Bisweilen sorgt überdies der norwegische Trompeter Nils Petter Molvær für melancholische Zwischentöne.
Georges Gachot lässt es nicht bei einer filmischen Hymne auf den Starpianisten bewenden. Er zeigt auch Schwächen dieses etwas lebensfremden Monaden. Ganz auf seine Musik ausgerichtet, versäumte er es, für seine Nächsten zu sorgen. Da er seine Finanzen der Kontrolle seines Labels und seiner weissen Managerin überlassen hatte, gingen seine Tochter und zwei Lebenspartnerinnen nach seinem Tod leer aus. Und wenn der afroamerikanische Künstler selbst erklärte, nie rassistisch diskriminiert worden zu sein, so haben seine Verwandten andere Erfahrungen gemacht – vor allem im Musikbusiness.
Das grösste Verdienst von Gachots poetisch verspieltem Filmdokument ist es, ein Unikum aus der Vergessenheit zurückzuholen. Mit «Misty» hatte Garner einen ersten Hit gelandet. Das Album «Concert by the Sea», 1955 erschienen, verkaufte sich dann bald millionenfach. Es wurde – ähnlich wie später Dave Brubecks «Time Out» (1959) oder «The Köln Concert» (1975) von Keith Jarrett – zu einem der erfolgreichsten Jazzalben, weil es ein breites Publikum jenseits der eingeschworenen Jazz-Hipster erreichte.
Wie aber ist Erroll Garner zu einem pianistischen Original geworden? Bis auf ein paar wenige Klavierstunden in der Kindheit habe er sich autodidaktisch gebildet, sagt er in alten TV-Interviews. Von Anfang an beruhte seine Entwicklung auf Zuhören und Nachspielen – dabei hat er sich hörbar von Swing-Koryphäen wie Fats Waller oder Count Basie inspirieren lassen. Seine Autodidaktik hatte allerdings Nachteile. Er habe nie Noten lesen gelernt und sich ganz falsche Fingerstellungen angeeignet, gibt der Virtuose grinsend zu.
Rätselhaft und genial
In den frühen Jahren seiner Karriere diente Erroll Garner gelegentlich noch als Sideman von Solisten wie Charlie Parker oder Lucky Thompson. In den späteren Jahren hat sich der Pianist aber auf die eigene Musikalität konzentriert. Der Bassist Ernest McCarty und der Drummer Jimmy Smith erzählen im Film von Konzerten, bei denen man nie wissen konnte, welche Stücke Garner spielen würde und in welcher Tonart, weil der Bandleader das stets spontan entschied. Sie mussten gut hinhören, um rasch reagieren zu können.
Die Begleitmusiker haben überdies nie die Gelegenheit zu eigenen Solos bekommen. Das scheint sie jedoch nicht gestört zu haben. Er sei vor allem stolz gewesen, mit dem Komponisten von «Misty» spielen zu dürfen, findet Ernest McCarty. Wer wäre dem unvergleichlichen Furor des Pianisten solistisch auch gewachsen gewesen? Trotz dokumentarischer Ausrichtung von Gachots Film bleibt der Musiker, der praktisch ohne institutionelle Hilfe einen ureigenen Stil entwickelte, ein Rätsel. Die Gegenwart mag den Begriff nicht besonders, aber im Fall des kleinen Pianisten passt er: Erroll Garner war genial.