Mittwoch, Oktober 2

Wenn Einzeltäter und Terrorgruppen sich das IS-Label anhängen, maximieren sie ihre Wirkung.

Woher kommt die Terror-Gefahr für Europa? Peter R. Neumann, der am King’s College in London forscht, weist in zwei Richtungen. Zum einen auf professionell organisierte Netzwerke wie den IS-K, einen Ableger des Islamischen Staates aus Afghanistan. IS-K ist verantwortlich für den Anschlag im März auf eine Konzerthalle in Moskau, bei dem 143 Menschen starben.

Zuvor hatte das Netzwerk im Januar bei einer Gedenkfeier für den iranischen General Kassem Soleimani ein Massaker angerichtet. Für Weihnachten 2023 plante es Anschläge auf den Kölner Dom und den Stephansdom in Wien. Sie wurden von den Geheimdiensten vereitelt.

Zum anderen drohen Anschläge aus der Mitte der Gesellschaft durch sogenannte Tiktok-Terroristen. Das sind Jugendliche, die sich auf sozialen Netzwerken durch die Auseinandersetzung mit islamistischer Propaganda radikalisieren. Früher oder später schliessen sie sich geschlossenen Gruppen auf Telegram oder Whatsapp an und berauschen sich an Gewaltvideos.

Das kann bis zu dem Punkt führen, an dem die Frage im Raum steht: Warum schlagen wir nicht auch einmal los? Ein Vertreter dieses «Tiktok-Terrorismus» ist der jugendliche Messerstecher, der im März in Zürich einen orthodoxen Juden auf der Strasse angriff und schwer verletzte. Oder auch die Handvoll 15- und 16-Jähriger, die in Nordrhein-Westfalen einen Gottesdienst überfallen wollten. Und schliesslich der 19-jährige Sohn von Einwanderern aus Nordmazedonien, der – erfolglos – einen Angriff auf das Taylor-Swift-Konzert im August in Wien plante.

Der IS-K und die Tiktok-Terroristen sind offensichtlich grundverschiedene Erscheinungen, die aus völlig anderen geografischen, historischen und sozialen Zusammenhängen stammen. Und doch gibt es, neben der kruden jihadistischen Ideologie, etwas, das sie gemeinsam haben.

IS ist eine begehrte Marke für Gewaltunternehmer

Der IS-K (Islamischer Staat in Khorasan) wurde 2014 aus einem abtrünnigen Flügel der pakistanischen Taliban gegründet. Der Name Khorasan bezeichnet eine historische Landschaft, die Teile Afghanistans, Irans und Zentralasiens umfasst.

Die Gruppe etablierte sich zuerst im Osten Afghanistans und versuchte, dort eine Territorialherrschaft zu errichten. Als dies misslang, verlegte sie sich 2020 darauf, Attacken in Kabul auszuführen und religiöse Minderheiten wie die Schiiten zu terrorisieren. Doch nach ihrer Machtübernahme 2021 griff das Talibanregime hart gegen den IS-K durch. Er musste seine Operationen im Land fast vollständig einstellen.

Seither konzentriert der IS-K seine Aktivitäten auf Zentralasien, aus dessen Ländern er auch neues Personal rekrutiert. Daneben sind der Nahe Osten und jüngst auch Europa Operationsgebiete. Doch sind diese Gewaltunternehmer, die sich als «Provinz» des IS bezeichnen, wirklich eine Teilorganisation des Islamischen Staats? Ashley Jackson, die 2023 mit mehr als hundert IS-K-Männern in Pakistan und Afghanistan Interviews führte, verneint das.

Es handle sich dabei vielmehr um ein Franchise-Unternehmen («franchise operation»), das mit grosser Autonomie faktisch unabhängig von der Führung des IS arbeite. Franchising steht in der Wirtschaft für ein System, das Produkte oder Dienstleistungen unter Beachtung gegebener Standards vermarktet.

Die Selbständigkeit der Vertragsparteien bleibt dabei erhalten. Übertragen auf den IS und dessen Franchise-Nehmer heisst das: Die bekannte Marke IS verleiht den Terroristen von IS-K Erkennbarkeit und Glaubwürdigkeit. Umgekehrt verbucht der IS die Anschläge, die unter seinem Namen verübt werden, auf sein Konto. Damit stärkt er sein Prestige.

Ähnlich verfuhr seit langem al-Kaida und konnte sich so immer wieder vor dem endgültigen Niedergang retten. Zeitweise, so der amerikanische Experte Bruce Hoffmann, hätten zwei Dutzend Terrororganisationen von Nordwestafrika bis Südasien die Al-Kaida-Franchise benutzt.

Dieses Franchise-Modell funktioniert auch bei Tiktok-Terroristen. Auch sie berufen sich vor oder nach der Tat oft auf den IS, in dessen Dienst sie gehandelt hätten. Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil sich bei dieser Tätergruppe grundsätzlich die Frage stellt, ob sie überhaupt Terroristen sind. Denn Terroristen sind definitionsgemäss Täter, die mit ihrer Gewalt ein politischen Ziel erreichen wollen. Der Terror ist Mittel zum Zweck.

Dagegen erscheint die Gewalt bei den jungen Einzeltätern oft eher als Selbstzweck. Zwar verbreiten ihre Anschläge auch Angst und Schrecken, aber das ideologische Motiv wirkt meist oberflächlich, wie kurz zuvor angelesen. Zudem stellt man bei vielen von ihnen schwere Persönlichkeitsstörungen oder psychische Erkrankungen fest. Was sie zur Tat treibt, ist weniger ein religiöser Fanatismus als blanker Hass auf die Gesellschaft oder ihre Umgebung.

Sie sind dabei kaum von (apolitischen) Amokläufern zu unterscheiden, wie man sie von «school shootings» kennt. Indem sie sich als Jihadisten des IS ausgeben, veredeln sie in ihren Augen die Tat zu einem Terrorakt, der einen tieferen Eindruck auf die Gesellschaft macht als ein gemeines Verbrechen. Umgekehrt gilt auch hier, dass der IS den Anschlag für sich reklamieren kann und daraus Reputation bezieht.

Franchising potenziert den Schrecken

Fassen wir zusammen: Aus den ursprünglich hierarchischen und regional verwurzelten Organisationen wie al-Kaida oder dem Islamischen Staat ist eine globale Ideologie geworden. Ganz unterschiedliche Gruppierungen, Einzelfiguren und Kleingruppen können sie sich aneignen und unter Berufung auf das Original in die Tat umsetzen. Mit diesem Franchising verstärkt sich die Wirkung des jihadistischen Terrors. Er erscheint grösser und mächtiger, als er in Wirklichkeit ist. Aus zwei Gründen:

  • Franchising führt zu einer «optischen Täuschung»: Es scheint, als gäbe es eine Organisation, die weltumspannend in ganz verschiedene Gesellschaften hineingreifen könne. Doch das ist ein Trugschluss. In Wahrheit verbindet nichts die Lebensrealität eines kampferprobten tadschikischen Terroristen, der in Ostafghanistan Dorfbewohner massakriert, mit jener des labilen, sozial isolierten Teenagers, der in einer europäischen Stadt vor dem Computer vom Messerangriff in der Fussgängerzone träumt.
  • Franchising verhilft der Mutterorganisation zu mehr Resilienz. Al-Kaida war nach dem Angriff der Amerikaner auf Afghanistan und dem Kollaps des Taliban-Regimes 2001 ausser Gefecht. Die Kader befanden sich auf der Flucht oder im Versteck. Aber ihre Franchise-Nehmer in Afrika und anderswo sorgten dafür, dass die Marke al-Kaida weiterexistierte.

Franchising kann allerdings auch zu Problemen führen. Dann nämlich, wenn es missbraucht wird. Zu diesem Schluss kam 2005 bin Ladin, der oberste Anführer von al-Kaida. Denn im Irak hatte Abun Musa al-Zarkawi im Namen von al-Kaida einen Terrorfeldzug begonnen und Tausende schiitische Zivilisten getötet, statt den Kampf auf die amerikanischen Invasoren zu konzentrieren.

Bin Ladin protestierte. Doch er konnte seinen Franchisenehmer nicht unter Kontrolle bringen. Für den Gründer von al-Kaida war das eine Kränkung. In den Augen jener Öffentlichkeit aber, die das Treiben al-Zarkawis entsetzt verfolgte, steht die Marke al-Kaida umso mehr für blindwütige Gewalt.

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