Mittwoch, Oktober 2

Ein Teenager entweicht zwei Mal aus dem Massnahmenzentrum Uitikon und blamiert damit die Zürcher Justizbehörden.

Lorik kündigt seine Flucht schon beim ersten Gespräch an. Es ist der 6. April 2023, der 15-jährige Kosovare sitzt den Leitern des Massnahmenzentrums Uitikon gegenüber. Lorik, der eigentlich anders heisst, sagt zu ihnen, er werde die erste sich bietende Gelegenheit zur Flucht ergreifen. So hält es das Massnahmenzentrum nach dem Gespräch in einem Bericht fest.

Es bleibt nicht bei der Ankündigung: Innerhalb eines Jahres gelingt es Insassen drei Mal, aus dem Massnahmenzentrum Uitikon auszubrechen und zu flüchten.

Zwei Mal mit dabei: Lorik. Seine Ausbrüche sorgen für Schlagzeilen. Und sie sind auch darüber hinaus von Bedeutung. Denn: Der Teenager sitzt ohne gesetzliche Grundlage in Uitikon. Die Justizbehörden hätten ihn gar nie dort unterbringen dürfen. Die NZZ hat den Fall des Jugendlichen mithilfe von Akten und Gesprächen mit Lorik und weiteren Involvierten rekonstruiert.

«Falsche Kollegen, viel Scheiss im Leben»

Lorik wächst in Basel auf. Es ist keine unbeschwerte Kindheit, der Vater ist krankhaft eifersüchtig und gewalttätig. Mehrere Male muss die Polizei wegen häuslicher Gewalt zur Wohnung der Familie ausrücken. Schliesslich trennt sich Loriks Mutter von dem Mann. Da ist Lorik gerade einmal zwei Jahre alt. Der Bub kommt für mehrere Jahre in ein Kinderhaus, lebt kurzzeitig wieder daheim, wird erneut fremdplatziert. Auch in der Schule gilt er bald als nicht tragbar. Zu verhaltensauffällig, zu aggressiv, heisst es in einem Bericht der Behörden.

Time-outs, Schulausschlüsse, Kinderpsychiatrie: Je älter Lorik wird, desto grösser werden die Probleme. Lorik selbst sagt im Gespräch mit der NZZ: «Ich weiss nicht, was damals mit meinem Kopf los war. Falsche Kollegen, viel Scheiss im Leben.» Er hängt zu dieser Zeit viel mit anderen Jugendlichen herum, die selbst immer wieder Probleme machen und mit dem Gesetz in Konflikt geraten. In einem Bericht halten die Behörden fest, Lorik habe den «coolen Provokateur» gespielt, sobald ältere Jugendliche dabei gewesen seien. Er scheine über keinerlei Strukturen und Regeln in seinem Leben zu verfügen, notiert eine Psychologin, die sich mit seinem Fall befasst, einmal.

Lorik begeht Straftaten. Im Herbst 2022 verurteilt ihn das Jugendgericht in Basel deshalb wegen mehrfachen Raubes, mehrfachen Angriffs sowie mehrfacher versuchter einfacher Körperverletzung. Es beschliesst ausserdem: Lorik soll in einer offenen Einrichtung für Jugendliche untergebracht und betreut werden.

Er wird in ein Heim eingewiesen, doch lange hält es Lorik dort nicht aus. Immer wieder haut er ab. Einmal ist der Teenager drei Wochen weg. Er meldet sich in dieser Zeit regelmässig unter falschem Namen bei der Institution und will mit anderen Bewohnern telefonieren. Zum Teil erfolgen die Anrufe auch spätnachts. Lorik macht sich einen Spass daraus, die Mitarbeiter mit falschen Angaben in die Irre zu führen.

Irgendwann brechen die Verantwortlichen des Jugendheims die Massnahme wegen Aussichtslosigkeit ab. Er habe sich nicht gut vertragen mit den Verantwortlichen, sagt Lorik. «Ich wollte nicht dort sein.» Er habe immer wieder für Unruhe in der Gruppe gesorgt, schreibt die Heimleitung. Und: Lorik sei weniger am Wohl der Gruppe als an seinem eigenen Vorteil interessiert gewesen.

Zwölf Tage nach dem Abbruch der Massnahme läuft er einer Polizeistreife in die Hände. Er kommt in ein Untersuchungsgefängnis. Die Basler Jugendanwaltschaft entscheidet: Statt in eine offene soll Lorik in eine geschlossene Institution gebracht werden. Es ist das Massnahmenzentrum Uitikon im Kanton Zürich.

Das Problem dabei: Eigentlich dürfte Lorik da gar nicht hin. Denn laut Verordnung des Justizvollzugs muss ein Jugendlicher dafür mindestens 16 Jahre alt sein. Lorik aber ist 15. Die Zürcher Behörden erlauben die Verlegung trotzdem und stellen dafür eine Sonderbewilligung aus. Sie argumentieren, das Risiko für Gewaltdelikte sei hoch, der Teenager benötige deshalb intensive Unterstützung. Eine solche sei jedoch nicht möglich, wenn Lorik dauernd ausreisse.

Das Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung (Juwe) schreibt auf Anfrage, eine solche Ausnahmebewilligung werde nur in seltenen und speziellen Fällen erteilt. Es handle sich dabei um Fälle mit zahlreichen gescheiterten Platzierungsversuchen in anderen Einrichtungen. Uitikon ist also die letzte Möglichkeit. In den letzten fünf Jahren hat es laut Angaben des Amtes drei solche Fälle gegeben. Und die Behörde hält fest: Alle Beteiligten müssten mit der Unterbringung einverstanden sein.

Doch bei Lorik ist es anders. Sein Anwalt Christian Möcklin schreibt einen Brief an die Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr, in dem er die sofortige Entlassung seines Mandanten fordert. Darin hält der Verteidiger fest: «Wenn eine Ausnahme vom Gesetz im Gesetz nicht geregelt ist und erlaubt wird, kann es diese Ausnahme nicht geben.»

Auch Lorik erfährt, dass seine Unterbringung nicht den gesetzlichen Anforderungen entspricht. Wenige Tage später ist er auf der Flucht.

Amt entzieht Bewilligung für Aufenthalt

Es ist der 2. Juli 2023. Lorik und ein weiterer Jugendlicher werfen Gegenstände durch einen Raum des Massnahmenzentrums. Die Aufseher fühlen sich bedroht, ziehen sich in ein Büro zurück, wie es später in einem Bericht heissen wird. Als sie allein sind, schlagen die Teenager ein Fenster auf dem Dach des Gebäudes ein – mit Billardkugeln. Dann springen sie herunter und klettern über den Zaun, der um das Gebäude gelegt ist.

Drei Wochen später kommt es zu einem weiteren Vorfall. In der Nacht vom 23. Juli 2023 entweichen zwei weitere junge Männer. Auch sie werden wieder gefasst.

Als die Vorfälle bekanntwerden, reagieren die Zürcher Behörden. Der Zaun wird mit Nato-Draht abgeschlossen, neue Scheiben eingesetzt. Und: Die Billardkugeln kommen weg. Ausserdem überlegen sich die Behörden auch die Sache mit der Ausnahmebewilligung anders. Aufgrund der Vorkommnisse sei eine erneute ausnahmsweise Aufnahme nicht mehr möglich, hält das Amt fest.

Die Flucht der Teenager dauert nicht lange: Kurz vor Mitternacht werden die beiden Jugendlichen von der Polizei aufgegriffen. Lorik wird zunächst in ein Untersuchungsgefängnis gesteckt und schliesslich zu seiner Mutter geschickt.

Doch Lorik bleibt nicht lange bei sich zu Hause. Anfang 2024, Lorik ist da gerade 16 Jahre alt geworden, wollen ihn die Basler Behörden wieder zurück nach Uitikon bringen. Dort landet er im Februar auch tatsächlich wieder, nachdem er zuvor ein weiteres Mal untergetaucht war und von der Polizei gefasst wurde.

Der Anwalt Christian Möcklin erhebt erneut Beschwerde gegen den Entscheid. Der Aufenthalt im Massnahmenzentrum Uitikon verstosse gegen Bundesrecht, hält der Anwalt fest. Der Grund: Die Basler Jugendanwaltschaft stützt sich bei der zweiten Unterbringung auf die ursprünglich angeordnete offene Unterbringung. Eine solche erlaubt der Gesetzgeber in Uitikon aber erst ab dem 17. Altersjahr.

Dies im Gegensatz zur beabsichtigten geschlossenen Unterbringung, welche ab dem 16. Altersjahr zulässig wäre. Eine weitere Unterbringung sei ein eklatanter Verstoss gegen das Gesetz, hält der Anwalt in einer Beschwerde an das Basler Appellationsgericht fest.

Lorik wartet jedoch nicht auf den Entscheid des Gerichts. Zusammen mit vier anderen Häftlingen türmt er Anfang Mai – schon wieder. Die Medien schreiben: «Minderjährige Straftäter schlagen Fenster ein und büxen aus». Und sie fragen: «Ist das Zürcher Jugendgefängnis sicher?»

«Ein bisschen wie im Wilden Westen»

Als Lorik und drei Mitinsassen am 8. Mai ausbrechen, haben sie einen Plan. Die Lukarne, die diesmal als Ausstieg dient, befindet sich direkt neben jener von 2023. Dahinter ist der Aufenthaltsraum für eine der drei Wohngruppen im Massnahmenzentrum.

Die flüchtenden Jugendlichen benutzen ein Tischbein, um das Fenster einzuschlagen. Die alte Fluchtroute ist allerdings verstellt. Sie wählen deshalb einen neuen Weg: Entlang eines Schneefängers hangeln sie sich seitwärts über das Dach und kommen so gefahrlos über den Zaun, der nach wenigen Metern unterhalb der Dachkante an der Gebäudewand endet.

Wieder dauert es nicht lange, bis die Jugendlichen gefasst werden. Doch etwas ist dieses Mal anders: Nach Uitikon muss Lorik nicht zurück. Der Grund: Ende Mai heisst das Appellationsgericht in Basel die Beschwerde seines Anwalts gut. Es veranlasst, den Jugendlichen auf freien Fuss zu setzen.

Der Anwalt Christian Möcklin kritisiert, wie Lorik behandelt wird. Der Fall zeige, dass sich die Behörden im Umgang mit Jugendlichen oftmals nicht an das Gesetz hielten. «Es ist im Jugendstrafrecht ein bisschen wie im Wilden Westen.»

Der Anwalt beanstandet insbesondere die zweite rechtswidrige Unterbringung. Denn: Nach dem ersten Mal hätte den Behörden die Problematik ihres Vorgehens eigentlich bewusst sein müssen, findet Möcklin. «Es ist unverständlich, wie der zweite Eintritt des Jugendlichen von den Verantwortlichen des Massnahmenzentrums trotzdem noch einmal bewilligt werden konnte.» Der Anwalt will nun mit einer Staatshaftungsklage eine Genugtuung für den ungerechtfertigten Freiheitsentzug erwirken.

Lorik wiederum sagt, er sei froh, könne er wieder bei seiner Mutter wohnen. Er will nun eine Lehre anfangen – am liebsten im Detailhandel.

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