Freitag, Dezember 27

Rekonstruktion eines IS-inspirierten Anschlags in Zürich.

Mit knabenhaftem Gesicht und Kapuze über dem Kopf spricht der Jugendliche direkt in eine Kamera. Seine Stimme ist ruhig, während sich der 15-jährige Jüngling im Video zum Soldaten des Kalifats erklärt. Im Namen des Islamischen Staats werde er versuchen, so viele Juden wie möglich zu töten.

Es ist ein Bekennervideo. Wann es genau entstanden ist, ist noch unklar. Sicher aber ist: Am späten Samstagabend hat der junge Schweizer mit tunesischen Wurzeln seine Drohung wahr gemacht. Er begibt sich in den Zürcher Kreis 2 in die Nähe einer Synagoge. Gegen 21 Uhr 30 trifft er an der Kreuzung zwischen der Selnauerstrasse und der Brandschenkenstrasse auf sein Opfer – einen 50-jährigen Mann.

Der orthodoxe Jude ist gerade auf dem Weg zur Wohnung seiner Schwiegereltern, denen er einen Besuch abstatten will. So werden es später Angehörige des Opfers gegenüber «20 Minuten» berichten. Zuvor hat der Gläubige die Synagoge besucht.

«Ich bin hier, um Juden zu töten»

Der Jugendliche attackiert den Juden mit einem Messer. Mehrfach sticht er auf den Familienvater ein und verletzt ihn lebensgefährlich. Passanten gelingt es schliesslich, den 15-Jährigen zu überwältigen. Gegenüber herbeieilenden Familienmitgliedern des Opfers spricht er weitere Drohungen aus. Er sagt, es sei seine muslimische Pflicht, Juden zu töten.

Es gibt weitere Schilderungen von Passanten und Angehörigen: Gegenüber dem jüdischen Magazin «Tachles» sagten Zeugen, der Täter habe gerufen: «Ich bin Schweizer. Ich bin Muslim. Ich bin hier, um Juden zu töten.» Laut «20 Minuten» soll er auch «Allahu akbar» und «Tod allen Juden» gerufen haben.

Wenig später treffen die Stadtpolizei und der jüdische Rettungsdienst Hazoloh am Tatort ein. Der 15-Jährige wird festgenommen, sein Opfer ins Spital gebracht. Zwei Tage später wird zumindest klar sein, dass der 50-Jährige den Angriff überleben wird. Er müsse aber längere Zeit intensiv betreut werden, sagt Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds.

Es ist der erste derart schwerwiegende Angriff auf jüdische Personen in der Schweiz seit über zwanzig Jahren. Letztmals löste der bis heute ungeklärte Mord am Rabbiner Abraham Grünbaum im Juni 2001 in Zürich ähnliche Erschütterungen aus.

Was treibt einen 15-Jährigen an, mit solchem Hass zu einer Bluttat zu schreiten? Wo hat er sich radikalisiert?

Es sind diese Fragen, die nicht nur die Ermittler, sondern auch die jüdische Gemeinschaft, die Politik und die Öffentlichkeit seit dem vergangenen Samstag stellen. Schon am Tag nach der Tat verdichten sich die Zeichen, dass es sich um einen antisemitischen Angriff handelt. Als dann am Montag ein Bekennervideo im Internet auftaucht, gibt es daran keine Zweifel mehr.

Der Jugendliche schwört darin in holprigem Hocharabisch dem Islamischen Staat seine Treue und kündigt seine Tat an: «Hier bin ich heute, Soldat des Kalifats, der dem Aufruf des Islamischen Staates an seine Soldaten folgt, die Juden und Christen und ihre kriminellen Verbündeten anzugreifen.»

Der Beginn des Angriffs werde ein Überfall auf eine jüdische Synagoge sein, fährt der Jugendliche fort, «und ein Versuch, so viele Juden wie möglich zu töten». Gegen Ende des Videos ruft er andere Muslime dazu auf, Juden und Christen zu töten. Sie sollen dazu Messer, Kugeln und Brandsätze benutzen oder sie mit Autos und Lastwagen überfahren.

Den Text scheint der Jugendliche abzulesen, ab und an stolpert er über eine Formulierung. Das zweiminütige Video ist an mehreren Stellen geschnitten. Aufgenommen hat er es draussen, im Hintergrund ist Verkehrslärm zu hören.

«Jihadistisch motivierter Terrorismus sehr präsent»

Für den Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr ist die Tat des Jugendlichen ein Terroranschlag. Am Montag sagt Fehr vor den Medien, das Opfer sei alleine aufgrund seiner Religionszugehörigkeit niedergestochen worden. «Der Täter wollte gezielt einen Juden töten, das war offensichtlich eine antisemitische Tat», sagt Fehr.

Für Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, hat mit der Tat vom Samstag der Hass auf jüdische Menschen ein völlig neues Niveau erreicht. «Das war aber nicht nur ein Angriff auf einen jüdischen Menschen, sondern auch ein Angriff auf die freiheitliche, offene Schweiz.»

Es ist ein Hass, der vor allem in den islamistischen Kreisen zunimmt. Der Nachrichtendienst des Bundes geht von einer erhöhten Terrorgefahr aus. Und bei der Bundesanwaltschaft stapeln sich die Fälle. Auf Anfrage sagt die Sprecherin Linda von Burg, man führe derzeit rund 100 Verfahren und Rechtshilfeersuchen aus verschiedenen Ländern im Terrorbereich. «Die grosse Mehrheit davon betrifft das Phänomen des jihadistisch motivierten Terrorismus.»

Es geht dabei um Rekrutierung für Terrororganisationen, Jihadreisen, Propaganda sowie die Finanzierung von verbotenen Organisationen.

Vor allem in den letzten zwei bis drei Jahren habe die Zahl der Fälle nochmals markant zugenommen. Linda von Burg sagt: «Das Phänomen des jihadistisch motivierten Terrorismus ist in der Schweiz mitnichten verschwunden, sondern nach wie vor sehr präsent.»

Bisher nicht auf dem Radar der Behörden

Die Behörden bestätigen am Montagnachmittag die Echtheit des Bekennervideos. Sonst weiss man über den Täter aber wenig: Er hat tunesische Wurzeln und wurde im Dezember 2011 eingebürgert. Er wohnt nicht in der Stadt Zürich, aber im Kanton. Vor der Tat ist er zudem nie wegen extremistischer Handlungen auf dem Radar der Strafverfolgungsbehörden erschienen.

Was er unmittelbar vor der Tat gemacht hat, ist noch unklar. Unter anderem kursierte das Gerücht, dass der Täter an einer Pro-Palästina-Demonstration gewesen sein soll. Sicherheitsdirektor Mario Fehr will dies am Montag aber nicht kommentieren. Er sagt lediglich: «Niemand wird nur an einer Demo radikalisiert.» Zum Stand der Ermittlungen hält sich Fehr bedeckt, man wolle diese auf keinen Fall gefährden.

Es stehe aber ausser Zweifel, dass der Täter gezielt einen Juden habe töten wollen. «Es war ein widerlicher und feiger Terrorakt.» Die Ermittler versuchen nun zu klären, wie sich der Jugendliche radikalisiert und in welchem Umfeld er sich vor der Tat bewegt hat.

Eine Frage steht für die Ermittler im Zentrum: Hat er als Einzeltäter oder in Verbindung mit einer Gruppierung gehandelt?

Jugendlicher sitzt in Untersuchungshaft

Der Tatverdächtige befindet sich inzwischen auf Anordnung der Jugendanwaltschaft in Untersuchungshaft. Klar ist: Weil der Jugendliche erst 15-jährig ist, gelangt das Jugendstrafrecht zur Anwendung. Dieses ist auf die Resozialisierung und Reintegration von minderjährigen Täterinnen und Tätern ausgelegt und nicht auf die Bestrafung. Bei Tätern, die unter 16 Jahre alt sind, kann eine Freiheitsstrafe von maximal einem Jahr ausgesprochen werden.

Allerdings kennt das Jugendstrafrecht eine Reihe weiterer Massnahmen, die zur Anwendung gelangen können. So können Freiheitsstrafen zugunsten von sogenannten Schutzmassnahmen aufgeschoben werden. Diese reichen von einer persönlichen Betreuung über eine ambulante Behandlung bis hin zu einer Unterbringung in einer Institution. Theoretisch kann eine solche Schutzmassnahme bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres eines Betroffenen verlängert werden, wenn eine entsprechende Gefährdungslage vorliegt.

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