Freitag, Dezember 27

An der Schach-WM ist nach wie vor alles offen, es steht 3:3. Der Titelverteidiger Ding Liren zeigte zuletzt aber neue Unsicherheiten. Wird der Herausforderer Gukesh nun risikofreudiger?

War es Naivität, jugendlicher Übermut oder eiskalte psychologische Kriegsführung? Auch die Pressekonferenz brachte keine abschliessende Klärung, was dem 18-jährigen Gukesh Dommaraju durch den Kopf ging, als er am Sonntag im 26. Zug das vom Ding Liren angebotene Unentschieden durch Zugwiederholung verschmähte. Und stattdessen seine Dame nach h4 beorderte.

Die meisten hatten an dieser Stelle den unmittelbaren Friedensschluss erwartet, denn der Schach-WM-Neuling Gukesh konnte sowohl vom Gesamtstand wie vom Partieverlauf her mit einer Punkteteilung zufrieden sein. Bei einem Score von 2,5:2,5 hatte das sechste Spiel mit einer tiefen Eröffnungsvorbereitung von Ding Liren begonnen. Der chinesische Weltmeister führte im Blitztempo eine Variante im sogenannten Londoner System aus, die oberflächlich harmlos schien und vom Computer als völlig ausgeglichen bewertet wurde.

Bei näherer Betrachtung stellte sie Schwarz aber vor verschiedene schwierige Entscheidungen und zwang Gukesh, zahlreiche Drohungen – reale wie imaginäre – zu berücksichtigen und akkurat zu bewerten.

Wenig überraschend war es daher zum ersten Mal im ganzen Match der Inder Gukesh, der zuerst in langes Nachdenken versank, selbst wenn ihn die Eröffnung nicht völlig unvorbereitet treffen konnte. Im frühen Mittelspiel wuchs sein Rückstand auf der Uhr gar auf fast 45 Minuten an. Immerhin fand er ein vernünftiges Abspiel. Nicht das theoretisch allerbeste, aber doch eines, das zu einer soliden Aufstellung führte in einem Schwerfigurenendspiel mit zwei Damen und vier Türmen.

Ding Liren redet sich seinen Stellungsvorteil klein

Beide Seiten sicherten sich ihre Trümpfe in Form von potenziellen Freibauern – Weiss am Damenflügel, Schwarz am Königsflügel. Sie mussten aber gleichzeitig vorsichtig agieren, um nicht zu früh loszustürmen, da diese Bauern nicht nur den sprichwörtlichen Marschallstab im Tornister trugen, sondern auch den eigenen König zu schützen hatten.

Allerdings konnte nur einer besser stehen: Ding Lirens Figuren kontrollierten im Zentrum die einzige offene Linie, und auch die Bauernkonstellation sprach tendenziell zu seinen Gunsten. Doch da passierte, was schon in der zweiten und der fünften Partie geschehen war: Entweder verkannte Ding das wahre Potenzial seiner Stellung, oder es fehlte ihm im tiefsten Inneren die Lust auf einen langen, kräftezehrenden Kampf. Er vergeudete seinen ganzen Zeitvorteil, und mit einigen pessimistischen Variantenberechnungen redete er sich seinen Stellungsvorteil so weit klein, dass er begann, die Züge zu wiederholen, um ein Remis herbeizuführen.

Dieser Plan ging wie eingangs erwähnt nicht ganz auf. Gukesh wich im letzten Moment ab. Da sein Gegner ja gezeigt habe, dass er mit Remis einverstanden sei, habe er noch ein bisschen etwas probieren wollen, sagte Gukesh im Nachhinein. Objektiv hatte sich an der Stellung indes wenig geändert – Gukesh stand auch nach seinem wagemutigen Damenzug schlechter. Nicht dramatisch, aber unbestritten.

Bald musste sich der indische Shootingstar wieder auf eine unangenehme Verteidigung einstellen. Manch einer hätte sich in seiner Lage darüber geärgert, sich so unnötig und freiwillig in Schwierigkeiten begeben zu haben. Doch wie schon am Vortag behielt Gukesh einen kühlen Kopf und verteidigte sich mit stoischer Ruhe. Ding konnte seine Remisbereitschaft indes nicht ganz ablegen. Obschon er besser stand, spielte er am entscheidenden Punkt zu ambitionslos, so dass das Spiel doch mit einer Punkteteilung im 46. Zug endete.

Gukesh demonstrierte, dass er Ding nicht fürchtet

War also alles umsonst? Keineswegs. Gukesh hatte mit seiner wagemutigen Ablehnung der gegnerischen Friedensofferte klargemacht, wer in diesem Duell psychologisch die Oberhand hat. Er hat demonstriert, dass er seinen Gegner nicht fürchtet, dass er bereit ist, nachteilige Stellungen zu verteidigen. Und dass er von Ding mehr Fehler erwartet als von sich selbst. Ding hatte hingegen erneut Unsicherheiten gezeigt – in der Stellungsbewertung wie im Auftreten. Letzteres ist fast Teil seines Markenzeichens, Ersteres dagegen ungewöhnlich.

Sechs von vierzehn Partien sind nun gespielt. Ding konnte technisch dem Spielverlauf fast immer seinen Stempel aufdrücken, doch unter dem Strich hat noch nichts herausgeschaut. Es steht 3:3.

Der jüngste WM-Herausforderer der Geschichte Gukesh schätzt seine Stellung zwar bisweilen eine Spur zu optimistisch ein, doch in der richtigen Dosis ist solche Selbstsicherheit das Kennzeichen grosser Champions. Er stammt aus Chennai, wie sein grosses Vorbild Viswanathan Anand. Wie jener verfügt er über enorme Selbstbeherrschung. Dazu kommen eine innere Ruhe und Abgeklärtheit, die ihresgleichen suchen. Es dürften diese mentalen Qualitäten sein, die ihn dazu bestimmten, aus einer ganzen Generation hochtalentierter junger indischer Grossmeister in Singapur als Erster nach der Schachkrone zu greifen.

Am Dienstag folgt die siebte Partie. Gut möglich, dass Gukesh im Vertrauen auf die gezeigten Defensivqualitäten einen Gang zulegen und das Risiko weiter steigern wird.

Doch in der Spielvorbereitung hat Gukesh den Gegner bisher kaum beeindrucken können, und auch die psychologische Oberhand kann rasch weg sein. Denn wenn einer mentale Herausforderungen meistert, dann Ding Liren.

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