Montag, September 30

Frankreichs alteingesessene Arbeiterschaft wählt Marine Le Pen. Der Linken-Führer Jean-Luc Mélenchon konzentriert sich deswegen auf die Banlieues und die Jugend. Das gefällt nicht allen Genossen.

In Frankreichs linkem Lager tun sich Risse auf. Nicht nur innerhalb des sogenannten Nouveau Front populaire (NFP). Das breite Bündnis aus Sozialisten, Kommunisten, Grünen und radikalen Linken, das im Juni eilig zusammengeschustert wurde, um den Rechtsruck zu stoppen, war von Anfang an fragil. Die Bandbreite reicht von antikapitalistischen Revolutionären über Ökofeministinnen bis hin zu kompromissbereiten Sozialdemokraten. Kein Wunder, dass man sich schon kurz nach dem knappen Sieg bei der Parlamentswahl um die Frage stritt, wer im Namen der Neuen Volksfront Premierminister werden sollte.

Nun ist auch ein heftiger Richtungskampf am Rande des linken Lagers ausgebrochen, bei dem es um den Umgang mit dem Rassemblement national (RN) geht. Die Rechtsnationalisten sind längst die stärkste Kraft im ländlichen und kleinstädtischen Frankreich. Sie haben den meisten Zuspruch unter alteingesessenen Arbeitern und Geringverdienern, die sich abgehängt sehen und ihre letzte Hoffnung auf Marine Le Pen setzen. Haben die alten Arbeiterparteien überhaupt noch eine Chance, diese Menschen für sich zurückzugewinnen?

Zwei Ideen von Frankreich

Einer ist überzeugt davon. François Ruffin, 48 Jahre alt, stammt selbst aus einer strukturschwachen Region, aus dem Département Pas-de-Calais im Norden. Nur knapp konnte sich der Journalist und Filmemacher bei der Wahl im Juli gegen eine Kandidatin des RN durchsetzen und so wieder in die Pariser Nationalversammlung einziehen. Der schlaksige Abgeordnete versteht sich als Anwalt der «vergessenen» Arbeiterklasse. Er drehte den satirischen Dokumentarfilm «Merci, Patron!», in dem er den reichsten Mann des Landes, Bernard Arnault, auf die Schippe nahm. 2017 gewann er dafür einen César.

Ruffin gilt vielen Linken als Hoffnungsträger. Er möchte das Frankreich der Hochhäuser und das der Marktflecken («La France des tours et des bourgs») wieder vereinen, wie er oft sagt. Was er damit meint, ist, dass linke Politiker die Nöte der urbanen wie auch der ländlichen Bevölkerung ernst nehmen und sich stärker auf sozioökonomische Themen konzentrieren sollten. Mehr Klassenkampf, weniger Identitätspolitik. Nur so, glaubt Ruffin, könne man Le Pen das Wasser abgraben.

Das aber deckt sich nicht mit der Agenda eines anderen Schwergewichts der französischen Linken. Jean-Luc Mélenchon, 73 Jahre alt, charismatischer Gründer der Partei La France insoumise (Unbeugsames Frankreich), sucht vor allem in den «quartiers populaires», den migrantisch geprägten Arbeitervierteln der grossen Städte, sein Heil. Dort, wo sich andere etablierte Politiker selten blicken lassen. «Wir müssen die Jugend und die Arbeiterviertel mobilisieren. Den Rest kannst du vergessen. Da verschwenden wir unsere Zeit», vertraute Mélenchon kürzlich einer Aktivistin an, vor laufender Kamera.

Polarisieren und provozieren, das sind Mélenchons Stärken. Der frühere Trotzkist, der Fidel Castro und Hugo Chávez zu seinen Vorbildern zählt, versucht gar nicht erst, seine radikalen Ansichten zu mässigen. Der flammende Redner wettert, wo er nur kann, gegen den Kapitalismus, gegen die EU, die Nato und Israel. Und das kommt bei vielen jungen, urbanen Wählern und Muslimen gut an. Bei der letzten Präsidentschaftswahl 2022 gab jeder fünfte Franzose dem «Helden der Banlieues» im ersten Wahlgang seine Stimme.

Mehr Klassenkampf, weniger Identitätspolitik

Bei den muslimischen Wählern waren es sogar fast 70 Prozent. Das hat auch damit zu tun, dass Mélenchon als einziger Parteiführer den Diskurs der angeblich islamfeindlichen Gesellschaft für sich entdeckt hat. 2019 nahm er an einem «Marsch gegen Islamophobie» teil, der von einem obskuren islamistischen Verein organisiert worden war. Er würde immer wieder mitmarschieren, sagte Mélenchon auch dann noch, als der französische Innenminister Gérald Darmanin den Verein verbot. Mit Leidenschaft bewirtschaftet La France Insoumise darüber hinaus die Empörung über den Staat Israel und dessen «genozidale Kriegsführung».

Ruffin gehörte bis vor kurzem ebenfalls zur Partei der «Unbeugsamen». Doch dann brach er mit Mélenchon. In seinem Buch «Mein ganzes Frankreich, nicht die Hälfte» schreibt Ruffin über seinen früheren Mentor, dass dieser die Regionen, die mehrheitlich für Le Pen stimmten, im Grunde verachte. Es sei sinnlos, dort anzutreten, habe Mélenchon ihm anvertraut, denn: «Nach dem Krieg dauerte die Entnazifizierung Deutschlands 25 Jahre.» In einer anderen Passage erinnert sich Ruffin, wie Mélenchon mit Ekel über die traditionelle Arbeiterschaft in Pas-de-Calais gesprochen habe: «Sie schwitzten morgens Alkohol … Sie rochen schlecht … Fast alle waren fettleibig.»

Die Enthüllungen schlugen ein wie eine Bombe. Auf der traditionellen Fête de l’Humanité, dem jährlichen Volksfest der französischen Linken, wurde Ruffin am vergangenen Wochenende von Mélenchon-Anhängern ausgebuht. «Verräter!» und «Spalter!» riefen sie ihm zu, als er auf einer Bühne die Kritik wiederholte. Doch Ruffin blieb standhaft: «Wir müssen aufhören, die Arbeiterklasse in gute und schlechte Wähler einzuteilen. Unser Ziel muss es sein, alle Menschen mit niedrigem Einkommen anzusprechen, egal ob sie in der Stadt oder auf dem Land leben.»

La France insoumise reagierte mit scharfen Gegenangriffen. Ruffin übernehme «die Sprache der extremen Rechten», sagte der Parteivorsitzende Manuel Bompard. Auch in den Hochhaussiedlungen wohnten schliesslich Arbeiter und Angestellte, nicht bloss Dealer und Kriminelle. Ruffin habe das Konzept einer «kreolisierten», kulturell durchmischten, Arbeiterklasse nicht verstanden. Die Strategie, sich auf die Jugend und die ärmsten zehn Prozent des Landes zu konzentrieren, so Bompard, sei davon abgesehen richtig, wenn die Neue Volksfront eine absolute Mehrheit im Parlament erreichen wolle.

Wer vertritt die kleinen Leute?

Der linke Bruderkampf hat die Medien elektrisiert, denn die Frage, warum die französischen Arbeiter rechts wählen, ist ein Dauerbrenner. Der Soziologe Didier Eribon, selbst ein Arbeiterkind aus der Provinz, rechnete in seiner Biografie «Rückkehr nach Reims» schon vor Jahren mit dem Dünkel linker Parteien ab, die den Klassenbegriff abgeschafft hätten. Den gegenwärtigen Triumph des Rassemblement national sagte Eribon voraus. «Wenn es den Linken nicht gelingt, alle Wählergruppen anzusprechen, drohen sie völlig bedeutungslos zu werden», warnt der Politologe Rémi Lefebvre.

Ruffin und Mélenchon gelten beide als mögliche Kandidaten für die nächste Präsidentschaftswahl 2027. Dann tritt auch Le Pen wieder an, die sich nicht nur als einzige Vertreterin der «kleinen Leute» präsentiert, sondern die Abstiegsängste weiter Teile der Gesellschaft auch geschickt mit den Themen Einwanderung, Identität und innere Sicherheit zu verbinden weiss. Bei diesen heissen Eisen haben die Gegner Le Pens bisher zu keiner gemeinsamen Sprache gefunden.

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